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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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flauem, ausgegangen sein.*) Er, dessen rauhes Aeußere ein edles, gefühlvolles
Herz barg, hatte wohl vou unserem namenlosen Jammer Nachricht erhalten,
hatte wohl selbst das Gewinsel der Lebenden und Sterbenden gehört und Be¬
fehl zu unserer Verlegung an einen anderen Platz gegeben.

Beim Aufbruche aus dein mehrerwähnten Hofe, der dnrch uns zu einem
großen Leichenacker geworden war, hing sich an mich, den Betäubten, ein
später mit eingebrachter Kriegsmann, ein gothaischer Sergeant oder Fourier
(Namens Petzold, wenn ich nicht irre), ein langer, schöner Mensch, die Füße
mit Lumpen umwickelt und den einen Fuß schleifend, da er einen Streifschuß
an denselben bekommen hatte. Diesen unglücklichen Menschen, der mich weinend
und händeringend bat und beschwor, ihn nicht an diesem Orte des Entsetzens
im Stiche zu lassen, schleppte ich mit mir fort. Bei jedem seiner Schritte spritzte
Blut um seine nackten, erfrorenen Füße, da die Fußsohlen an dem Eise kleben
blieben. Glücklicherweise hatte er kein Gefühl seiner Leiden, er wußte nicht,
daß er den Schnee und das Eis, welches er betrat, mit seinem Blute färbte.
Wir wurden durch Wilna, am Rathhause vorüber, geführt. Jämmerlich ein¬
herwankend, mußten wir auch das härteste Gemüth erweichen. Manche Damen
weinten Thränen des Mitleids und warfen uns von den Fenstern aus weiße
Tücher zu. In der Nähe des Rathhauses, vor der Thür einer Apotheke, stürzte
mein Gefährte leblos nieder. Im Umfinken zog er mich mit sich zu Boden,
aber nicht in die Arme der ewigen Ruhe; ich fiel nur, völlig erschöpft, an seiner
Seite in eine tiefe Ohnmacht. Ich hörte, als mir die Sinne vergingen, von
dem uns escortirenden russischen Offizier, der auch mich für todt hielt und
mich mit seinem Säbel umwendete, noch die Worte: "Kamerad kaput!" Durch
den Lärm der vielen Trommeln, die dort auf dem Marktplatze bei der Parade
gerührt wurden, kam ich aber wieder zu mir. Meine Besinnung kehrte zurück,
zunächst der Sinn des Geruchs, mit welchem ich wahrnahm, daß mein Gesicht
mit stinkendem Spiritus begossen war. Ein Diener der nahen Apotheke mochte
-- wohl aus Mitleid, um mein schon im Erlöschen begriffenes schwaches Lebens¬
licht wieder aufzufrischen -- dieses Fluidum auf mich geschüttet haben. Wie
ein Wurm, der, wenn er getreten wird, sich krümmt und den letzten Rest feiner
Kräfte aufbietet, um sein armes Leben zu fristen, erhob ich mich mit der größten
Mühe von meinem eisigen Lager und gedachte, in der Judensynagoge, in welcher
ich schon früher, ehe wir ausrückten, gelegen hatte, ein Unterkommen zu suchen.



*) Erst am 24. December langte Kaiser Alexander mit dem Großfürsten Konstantin in
Wilna an. Seit Ankunft des Polizeimeisters Hcirtel minderte sich das Elend. Die Lazarethe
wurden verbessert, die Straßen gereinigt, die Leichen beerdigt, die Kranken von den Gesunden
geschieden und ein großer Theil der letzteren in die inneren Provinzen des Reichs transpor-
tirt. Vgl. auch die oben citirten "Rückblicke" ze. (Minerva 1817. 2. Bd. S. 449).

flauem, ausgegangen sein.*) Er, dessen rauhes Aeußere ein edles, gefühlvolles
Herz barg, hatte wohl vou unserem namenlosen Jammer Nachricht erhalten,
hatte wohl selbst das Gewinsel der Lebenden und Sterbenden gehört und Be¬
fehl zu unserer Verlegung an einen anderen Platz gegeben.

Beim Aufbruche aus dein mehrerwähnten Hofe, der dnrch uns zu einem
großen Leichenacker geworden war, hing sich an mich, den Betäubten, ein
später mit eingebrachter Kriegsmann, ein gothaischer Sergeant oder Fourier
(Namens Petzold, wenn ich nicht irre), ein langer, schöner Mensch, die Füße
mit Lumpen umwickelt und den einen Fuß schleifend, da er einen Streifschuß
an denselben bekommen hatte. Diesen unglücklichen Menschen, der mich weinend
und händeringend bat und beschwor, ihn nicht an diesem Orte des Entsetzens
im Stiche zu lassen, schleppte ich mit mir fort. Bei jedem seiner Schritte spritzte
Blut um seine nackten, erfrorenen Füße, da die Fußsohlen an dem Eise kleben
blieben. Glücklicherweise hatte er kein Gefühl seiner Leiden, er wußte nicht,
daß er den Schnee und das Eis, welches er betrat, mit seinem Blute färbte.
Wir wurden durch Wilna, am Rathhause vorüber, geführt. Jämmerlich ein¬
herwankend, mußten wir auch das härteste Gemüth erweichen. Manche Damen
weinten Thränen des Mitleids und warfen uns von den Fenstern aus weiße
Tücher zu. In der Nähe des Rathhauses, vor der Thür einer Apotheke, stürzte
mein Gefährte leblos nieder. Im Umfinken zog er mich mit sich zu Boden,
aber nicht in die Arme der ewigen Ruhe; ich fiel nur, völlig erschöpft, an seiner
Seite in eine tiefe Ohnmacht. Ich hörte, als mir die Sinne vergingen, von
dem uns escortirenden russischen Offizier, der auch mich für todt hielt und
mich mit seinem Säbel umwendete, noch die Worte: „Kamerad kaput!" Durch
den Lärm der vielen Trommeln, die dort auf dem Marktplatze bei der Parade
gerührt wurden, kam ich aber wieder zu mir. Meine Besinnung kehrte zurück,
zunächst der Sinn des Geruchs, mit welchem ich wahrnahm, daß mein Gesicht
mit stinkendem Spiritus begossen war. Ein Diener der nahen Apotheke mochte
— wohl aus Mitleid, um mein schon im Erlöschen begriffenes schwaches Lebens¬
licht wieder aufzufrischen — dieses Fluidum auf mich geschüttet haben. Wie
ein Wurm, der, wenn er getreten wird, sich krümmt und den letzten Rest feiner
Kräfte aufbietet, um sein armes Leben zu fristen, erhob ich mich mit der größten
Mühe von meinem eisigen Lager und gedachte, in der Judensynagoge, in welcher
ich schon früher, ehe wir ausrückten, gelegen hatte, ein Unterkommen zu suchen.



*) Erst am 24. December langte Kaiser Alexander mit dem Großfürsten Konstantin in
Wilna an. Seit Ankunft des Polizeimeisters Hcirtel minderte sich das Elend. Die Lazarethe
wurden verbessert, die Straßen gereinigt, die Leichen beerdigt, die Kranken von den Gesunden
geschieden und ein großer Theil der letzteren in die inneren Provinzen des Reichs transpor-
tirt. Vgl. auch die oben citirten „Rückblicke" ze. (Minerva 1817. 2. Bd. S. 449).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/403>, abgerufen am 23.07.2024.