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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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des osmanischen politischen und gesellschaftlichen Systems entwickelt wissen.
Seien, so fuhr er fort, in dieser Beziehung Mißgriffe gemacht, sei den Bevölke¬
rungen Undurchführbares zugemuthet worden, so gehe das von Rußland ans.
Nur dessen diplomatische Einwirkung auf die Pforte selbst und die europäischen
Mächte, nur die unaufhörliche Einmischung der fremden Diplomatie in die
inneren Angelegenheiten der Türkei bedrohten den Bestand der letzteren. Indem
die Erhaltung der Pforte zum Gegenstande der europäischen Fürsorge geworden,
scheine das Ziel Rußlands allerdings in weite Ferne gerückt, in Wirklichkeit
aber werde der Verfall des Reiches, dem man die Fähigkeit, selbständig zu leben,
abspreche, dem man fortwährend mit ärztlicher Hilfe beispringen zu müssen be¬
haupte, nur beschleunigt. Die beständige Einmischung erzeuge die Vorstellung
ihrer steten Nothwendigkeit, sie werde oft mit Unkenntnis? der Verhältnisse ge¬
übt, und wenn der Pforte die gewaltigsten militärischen Kräfte zur Abwehr von
auswärtiger Bedrohung zu Gebote stünden, so würden doch die Auflösung des
inneren Organismus, die Lockerung der zusammenhaltenden Elemente von Sitte,
Glauben und Gesetz, die Ertödtung der Zuversicht auf eigene Kraft verderb¬
liche Ereignisse vorbereiten. Könnten die europäischen Mächte sich entschließen,
die Türkei sich selbst zu überlassen, so würde sie sich Rußlands schon erwehren
und die Jnterventionslust keinen Gegenstand, die Diplomatie keine Arbeit mehr
finden.

Man sieht, wenn Urquhart Recht hatte, so gab es eigentlich gar keine
orientalische Frage, und von entgegengesetzten Ausgangspunkten gelangten Urqu¬
hart und Cobden zu demselben praktischen Resultate, d. h. zu der Forderung:
Lasse man künftig englischerseits alle Einmischung in die russisch-türkische Frage
sein. Ganz anderer Ansicht als Urquhart, der allerdings die Türkei ans eigener
Anschauung kannte, war der damalige britische Gesandte Sir Stratford
Canning, und dieser konnte sich auf noch längere und reichere Erfahrungen
stützen. Der warm ausgedrückten Ueberzeugung Urquharts von der Lebens¬
fähigkeit der Türkei antwortete er mit folgendem Verse aus einem Kinderliede:


Huinpatz? vumzMz? hö,t on a v"U,
lliunpktz? vllwxlit^ xot s, grss,t Mi z
^11 1,Ks XinAS Iiorss8 "na tke Kioxs insn
voulä not set IlrimzMz? vumxlitz? nx s,xkin.

Das hieß auf Deutsch in kurzen Worten: Der Türkei ist, so wie sie beschaffen
ist, sür die Dauer nicht zu helfen. Aber -- so dürfen wir nach einem Blick
auf die Wirksamkeit Sir Stratfords hinzufügen -- es muß trotzdem versucht
werden, weil Humphty Dumphtys Tod ein Unglück für Europa sein würde,
und möglicherweise gelingt dies gerade auf dem Wege, den Urquhart für den
Weg des Verderbens ansieht, durch Hereinziehen der Türkei in die europäische


des osmanischen politischen und gesellschaftlichen Systems entwickelt wissen.
Seien, so fuhr er fort, in dieser Beziehung Mißgriffe gemacht, sei den Bevölke¬
rungen Undurchführbares zugemuthet worden, so gehe das von Rußland ans.
Nur dessen diplomatische Einwirkung auf die Pforte selbst und die europäischen
Mächte, nur die unaufhörliche Einmischung der fremden Diplomatie in die
inneren Angelegenheiten der Türkei bedrohten den Bestand der letzteren. Indem
die Erhaltung der Pforte zum Gegenstande der europäischen Fürsorge geworden,
scheine das Ziel Rußlands allerdings in weite Ferne gerückt, in Wirklichkeit
aber werde der Verfall des Reiches, dem man die Fähigkeit, selbständig zu leben,
abspreche, dem man fortwährend mit ärztlicher Hilfe beispringen zu müssen be¬
haupte, nur beschleunigt. Die beständige Einmischung erzeuge die Vorstellung
ihrer steten Nothwendigkeit, sie werde oft mit Unkenntnis? der Verhältnisse ge¬
übt, und wenn der Pforte die gewaltigsten militärischen Kräfte zur Abwehr von
auswärtiger Bedrohung zu Gebote stünden, so würden doch die Auflösung des
inneren Organismus, die Lockerung der zusammenhaltenden Elemente von Sitte,
Glauben und Gesetz, die Ertödtung der Zuversicht auf eigene Kraft verderb¬
liche Ereignisse vorbereiten. Könnten die europäischen Mächte sich entschließen,
die Türkei sich selbst zu überlassen, so würde sie sich Rußlands schon erwehren
und die Jnterventionslust keinen Gegenstand, die Diplomatie keine Arbeit mehr
finden.

Man sieht, wenn Urquhart Recht hatte, so gab es eigentlich gar keine
orientalische Frage, und von entgegengesetzten Ausgangspunkten gelangten Urqu¬
hart und Cobden zu demselben praktischen Resultate, d. h. zu der Forderung:
Lasse man künftig englischerseits alle Einmischung in die russisch-türkische Frage
sein. Ganz anderer Ansicht als Urquhart, der allerdings die Türkei ans eigener
Anschauung kannte, war der damalige britische Gesandte Sir Stratford
Canning, und dieser konnte sich auf noch längere und reichere Erfahrungen
stützen. Der warm ausgedrückten Ueberzeugung Urquharts von der Lebens¬
fähigkeit der Türkei antwortete er mit folgendem Verse aus einem Kinderliede:


Huinpatz? vumzMz? hö,t on a v»U,
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^11 1,Ks XinAS Iiorss8 »na tke Kioxs insn
voulä not set IlrimzMz? vumxlitz? nx s,xkin.

Das hieß auf Deutsch in kurzen Worten: Der Türkei ist, so wie sie beschaffen
ist, sür die Dauer nicht zu helfen. Aber — so dürfen wir nach einem Blick
auf die Wirksamkeit Sir Stratfords hinzufügen — es muß trotzdem versucht
werden, weil Humphty Dumphtys Tod ein Unglück für Europa sein würde,
und möglicherweise gelingt dies gerade auf dem Wege, den Urquhart für den
Weg des Verderbens ansieht, durch Hereinziehen der Türkei in die europäische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/392>, abgerufen am 23.07.2024.