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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Scene der Todesfurcht über jedes Maß, über die Wahrheit hinausgegangen
sei. Es war der Fehler Kleists, jedes Problem bis auf den letzten Tropfen
zu erschöpfen, und so hat ihn auch hier der tiefempfundene Moment, der uns
den Helden aus der Höhe seines Icarus-Fluges heruntergeschmettert zeigt, zu
einer Entfaltung aller Mittel verführt, die zwar von der tiefsinnigen Logik des
Stückes vertheidigt, aber von dessen ganzer Atmosphäre abgelehnt wird. Und
hier scheint mir der Fehler eigentlich noch auf einem andern Gebiete zu liegen.
Der Prinz von Homburg, so wie ihn der Dichter uns gezeigt hat, kann, nachdem
sein Uebermuth bis an die Sterne geflogen, 'nur wieder ebenso tief unter sich
selbst herabsinken, erst so verstehen wir ihn ganz, und sein Fall, so tief er uns
erschüttert, läßt uns doch nicht an ihm verzweifeln, denn eine solche Seele findet
sich erst im Abgrund wieder zurecht. Wir dulden an dem Prinzen jede Ab¬
sonderlichkeit, jedes aus dem allgemeinen Ton fallende Aufschwärmen der Seele,
so lange es nicht den ersten und unumstößlichsten Voraussetzungen des Kostüms
widerspricht, aber wir erheben uns gegen diese ungeheure Verleugnung des
preußische" Offiziers aus jenen Tagen, sie scheint uns unmöglich zu sein. Und
so hat denn auch auf der Bühne sich bewährt, daß diese rücksichtslose Enthüllung
der eigenen dämonischen Natur des Dichters nicht ohne Milderung ertragen
wird, daß sie selten ein völlig reines Verständniß antrifft." Das Letztere
ist unbedingt richtig: das mangelhafte Verständniß des Stückes beim Zu¬
schauer und die mangelhafte Darstellung durch den Schauspieler werden diese
Seene oftmals verderben und ungenießbar machen; aber die poetische und
schauspielerische Berechtigung derselben ist, wie gesagt, durch die Meininger
dargethan worden. Was Wilbrandt sagt, ist sehr schön reflectirt, aber die poe¬
tische Wirklichkeit wirft alle diese Reflexionen über den Haufen. Der historische
preußische Offizier aus jener Zeit und der märkische Oberst Prinz von Homburg
bei Kleist haben gewiß etwas Gemeinsames und sollen es haben; ja man kann
sagen, es sind dieselben Figuren, aber sie sind nur dieselben aus zwei verschie¬
dene" Vorstellungsgebieteu: Der erstere aus dem Gebiete der Historie, der Wirk¬
lichkeit, der Urtheilskraft, der Reflexion, der zweite aus dem Gebiete der Poesie,
der höhern Wirklichkeit, der Phantasie, der Anschauung. In diesen beiden ge¬
trennten Welten ist die gleiche Persönlichkeit doch eine andere. Die poetische
Wirklichkeit ist eine andere als die wirkliche. Bei ersterer befinden wir uns
in einer geträumten Welt, auf welche nicht alle Prätensionen der Wirklichkeit
passen. Bei einer künstlerisch vollendeten Aufführung der Scene denken wir
gar nicht an den "preußischen Offizier", und wenn wir daran denken, so finden
wir deshalb sein Betragen nicht befremdend, so gewaltig redet die tiefe Wahrheit
der Situation und der Persönlichkeit für sich selbst zu unserer Ueberzeugung.
Es ist auf der Bühne allerdings so hergebracht, daß der Held als ein Heros


Scene der Todesfurcht über jedes Maß, über die Wahrheit hinausgegangen
sei. Es war der Fehler Kleists, jedes Problem bis auf den letzten Tropfen
zu erschöpfen, und so hat ihn auch hier der tiefempfundene Moment, der uns
den Helden aus der Höhe seines Icarus-Fluges heruntergeschmettert zeigt, zu
einer Entfaltung aller Mittel verführt, die zwar von der tiefsinnigen Logik des
Stückes vertheidigt, aber von dessen ganzer Atmosphäre abgelehnt wird. Und
hier scheint mir der Fehler eigentlich noch auf einem andern Gebiete zu liegen.
Der Prinz von Homburg, so wie ihn der Dichter uns gezeigt hat, kann, nachdem
sein Uebermuth bis an die Sterne geflogen, 'nur wieder ebenso tief unter sich
selbst herabsinken, erst so verstehen wir ihn ganz, und sein Fall, so tief er uns
erschüttert, läßt uns doch nicht an ihm verzweifeln, denn eine solche Seele findet
sich erst im Abgrund wieder zurecht. Wir dulden an dem Prinzen jede Ab¬
sonderlichkeit, jedes aus dem allgemeinen Ton fallende Aufschwärmen der Seele,
so lange es nicht den ersten und unumstößlichsten Voraussetzungen des Kostüms
widerspricht, aber wir erheben uns gegen diese ungeheure Verleugnung des
preußische» Offiziers aus jenen Tagen, sie scheint uns unmöglich zu sein. Und
so hat denn auch auf der Bühne sich bewährt, daß diese rücksichtslose Enthüllung
der eigenen dämonischen Natur des Dichters nicht ohne Milderung ertragen
wird, daß sie selten ein völlig reines Verständniß antrifft." Das Letztere
ist unbedingt richtig: das mangelhafte Verständniß des Stückes beim Zu¬
schauer und die mangelhafte Darstellung durch den Schauspieler werden diese
Seene oftmals verderben und ungenießbar machen; aber die poetische und
schauspielerische Berechtigung derselben ist, wie gesagt, durch die Meininger
dargethan worden. Was Wilbrandt sagt, ist sehr schön reflectirt, aber die poe¬
tische Wirklichkeit wirft alle diese Reflexionen über den Haufen. Der historische
preußische Offizier aus jener Zeit und der märkische Oberst Prinz von Homburg
bei Kleist haben gewiß etwas Gemeinsames und sollen es haben; ja man kann
sagen, es sind dieselben Figuren, aber sie sind nur dieselben aus zwei verschie¬
dene» Vorstellungsgebieteu: Der erstere aus dem Gebiete der Historie, der Wirk¬
lichkeit, der Urtheilskraft, der Reflexion, der zweite aus dem Gebiete der Poesie,
der höhern Wirklichkeit, der Phantasie, der Anschauung. In diesen beiden ge¬
trennten Welten ist die gleiche Persönlichkeit doch eine andere. Die poetische
Wirklichkeit ist eine andere als die wirkliche. Bei ersterer befinden wir uns
in einer geträumten Welt, auf welche nicht alle Prätensionen der Wirklichkeit
passen. Bei einer künstlerisch vollendeten Aufführung der Scene denken wir
gar nicht an den „preußischen Offizier", und wenn wir daran denken, so finden
wir deshalb sein Betragen nicht befremdend, so gewaltig redet die tiefe Wahrheit
der Situation und der Persönlichkeit für sich selbst zu unserer Ueberzeugung.
Es ist auf der Bühne allerdings so hergebracht, daß der Held als ein Heros


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/291>, abgerufen am 23.07.2024.