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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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sich darum auch nur mit einem Zuge in das Kleine, Abgeschlossene, Provin¬
zielle zu verlieren."

Das waren aber immer nur Einzelne, und zwar hervorragende Zeit- und
Geistesgenossen, welche die Dichtergröße Kleists ahnten, und auch diese nicht
gleich von vornherein, sondern langsam genug; das Volk, die große Masse ver-
stand den Dichter absolut nicht; mit Ausnahme des "Katheders von Heilbronn", in
welchem der Dichter dem romantischen Zeitgeschmacke huldigte, bliebe" seiue
Werke schlechterdings "Caviar fürs Volk" und nicht minder für den weitaus größten
Theil der Gebildeten. Nach seinem Tode verfielen seine Dichtungen, allerdings
zum Theil mit verschuldet durch die Alles überwältigenden Zeitverhältnisse, in eine
unverdiente, undankbare, tiefe Vergessenheit; wie aus einem Grabe mußte Tieck
den verschollenen Dichter ans Licht der Freiheitstage heraufholen, und wie dem
Pfadfinder zu einer verschollenen Heldengruft ist ihm in der Literatur dafür
gedankt worden. Der Lebende hat Recht, sagen wir, aber wie oft thut die
Welt dem Lebenden Unrecht, und erst die Nachkommen kränzen sein Grab. Der
zehnte Theil Anerkennung und Gunst, welche dem Todten erwiesen worden ist,
hätten den Lebendigen vor dem frühen Tode bewahren, hätten ihm die Bitter¬
keit des Lebens ersparen können. Sehr bezeichnend für die wirklichen Verhält¬
nisse, für die wirkliche Situation, unter deren Druck Heinrich von Kleist starb,
ist das Wort der Rachel: "Nicht einer von allen hätte ihm 10 Thaler gegeben,
wenn er ihn darum angesprochen hätte." Das ist charakteristischer als ganze
Bände ästhetischen Nachruhms für die traurige Lage, in welcher Kleist sich als
verkannter, darbender Dichter befand.

Neben Tieck entriß fast gleichzeitig Franz von Holbein den Dichter der
Vergessenheit dadurch, daß er seine Dramen, zwar in ästhetischer Hinsicht ge¬
waltsam und barbarisch, in theatralischer aber mit unleugbaren Geschick bear¬
beitete. Holbein kannte sein Publikum, und wußte, daß es zu einer höhern
Auffassung und zu dem feinern Verständnisse, welches Kleists Dramen unbe¬
dingt zum Genusse erfordern, noch nicht reif war. Aber trotz dieser Lobsprüche
der Kenner, trotz dieser Bearbeitungen, trotz der zündenden Wirkung, welche be¬
sonders das "Käthchen von Heilbronn" ans der Bühne fortwährend ausübte,
blieb das Publikum deu übrigen Werken des Dichters gegenüber kalt. Fast
zwei Menschenalter seit Kleists Tode (1811) hat es gedauert, bis die Ausgabe
seiner Werke eine zweite Auflage erlebte. Für alle übrigen Dramen lassen sich
dafür zum Theil triftige Erklärungsgründe finden; warum aber traf diese Lauheit
auch das gerade für die Aufführung am meisten geeignete Stück, den "Prinzen
Friedrich von Homburg"? Es wird nicht überflüssig sein, der Beantwortung
dieser Frage eine kurze Uebersicht über das Stück selbst vorauszuschicken.

Friedrich der zweite erzählt in seinen Kemoires as Lrlmäodmii-ß', daß


Grenzbowi III. 1880. 37

sich darum auch nur mit einem Zuge in das Kleine, Abgeschlossene, Provin¬
zielle zu verlieren."

Das waren aber immer nur Einzelne, und zwar hervorragende Zeit- und
Geistesgenossen, welche die Dichtergröße Kleists ahnten, und auch diese nicht
gleich von vornherein, sondern langsam genug; das Volk, die große Masse ver-
stand den Dichter absolut nicht; mit Ausnahme des „Katheders von Heilbronn", in
welchem der Dichter dem romantischen Zeitgeschmacke huldigte, bliebe» seiue
Werke schlechterdings „Caviar fürs Volk" und nicht minder für den weitaus größten
Theil der Gebildeten. Nach seinem Tode verfielen seine Dichtungen, allerdings
zum Theil mit verschuldet durch die Alles überwältigenden Zeitverhältnisse, in eine
unverdiente, undankbare, tiefe Vergessenheit; wie aus einem Grabe mußte Tieck
den verschollenen Dichter ans Licht der Freiheitstage heraufholen, und wie dem
Pfadfinder zu einer verschollenen Heldengruft ist ihm in der Literatur dafür
gedankt worden. Der Lebende hat Recht, sagen wir, aber wie oft thut die
Welt dem Lebenden Unrecht, und erst die Nachkommen kränzen sein Grab. Der
zehnte Theil Anerkennung und Gunst, welche dem Todten erwiesen worden ist,
hätten den Lebendigen vor dem frühen Tode bewahren, hätten ihm die Bitter¬
keit des Lebens ersparen können. Sehr bezeichnend für die wirklichen Verhält¬
nisse, für die wirkliche Situation, unter deren Druck Heinrich von Kleist starb,
ist das Wort der Rachel: „Nicht einer von allen hätte ihm 10 Thaler gegeben,
wenn er ihn darum angesprochen hätte." Das ist charakteristischer als ganze
Bände ästhetischen Nachruhms für die traurige Lage, in welcher Kleist sich als
verkannter, darbender Dichter befand.

Neben Tieck entriß fast gleichzeitig Franz von Holbein den Dichter der
Vergessenheit dadurch, daß er seine Dramen, zwar in ästhetischer Hinsicht ge¬
waltsam und barbarisch, in theatralischer aber mit unleugbaren Geschick bear¬
beitete. Holbein kannte sein Publikum, und wußte, daß es zu einer höhern
Auffassung und zu dem feinern Verständnisse, welches Kleists Dramen unbe¬
dingt zum Genusse erfordern, noch nicht reif war. Aber trotz dieser Lobsprüche
der Kenner, trotz dieser Bearbeitungen, trotz der zündenden Wirkung, welche be¬
sonders das „Käthchen von Heilbronn" ans der Bühne fortwährend ausübte,
blieb das Publikum deu übrigen Werken des Dichters gegenüber kalt. Fast
zwei Menschenalter seit Kleists Tode (1811) hat es gedauert, bis die Ausgabe
seiner Werke eine zweite Auflage erlebte. Für alle übrigen Dramen lassen sich
dafür zum Theil triftige Erklärungsgründe finden; warum aber traf diese Lauheit
auch das gerade für die Aufführung am meisten geeignete Stück, den „Prinzen
Friedrich von Homburg"? Es wird nicht überflüssig sein, der Beantwortung
dieser Frage eine kurze Uebersicht über das Stück selbst vorauszuschicken.

Friedrich der zweite erzählt in seinen Kemoires as Lrlmäodmii-ß', daß


Grenzbowi III. 1880. 37
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/286>, abgerufen am 23.07.2024.