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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Elemente im Miteinander wird zum Conflict, zunächst in der Dissonanz als
Widerspruch zugleich vertretener Klänge gegen einander, im Sonatensatz als
Dnrchführungstheil, der die Themen zerstttckt und die Motive durch einander wirft,
als theilweise oder gänzliche Verkuppelung der beiden contrastirenden Themen,
oder auch nur durch Uebergang der rhythmischen Eigenthümlichkeit des einen in
das harmonische Beiwerk des anderen, als Auftreten des Hauptthemas in der
Tonart der Nebenthemas, und was sonst dergleichen der Componist an geist¬
reichen Combinationen ersinnen mag.

Der Conflict bedingt endlich die ästhetische Versöhnung, die letztmalige
Geltendmachung des Princips der Einheit über dem der Mannigfaltigkeit.
Dieselbe finden wir als Auflösung der Dissonanz, als Neugeburt der Themen
aus den Wirren des Durchführungstheils, im Sonatensatze als schließendes
Auftreten des zweiten Themas, welches wir als Contrast des ersten keimen
lernten, in der Tonart des ersten Themas, überhaupt als breite endliche Fest¬
setzung der Haupttonart, in den großen Formen als Uebereinstimmung des
Schlußsatzes in Character und Tonart mit dem ersten Satze. Stand der erste
Satz in einer Molltonart, so erscheint auch wohl der letzte Satz in der nächst-
verwandten gleichnamigen Durtvnart, den Schleier, welcher über dem Moll liegt,
hinwegziehend und dasselbe zum helleren, freudigerer Dur verklärend.




Die vorstehende Skizze der musikalischen Formgebung ist bei aller Kürze
doch ziemlich erschöpfend; sie erklärt Klangfvlge, Tonartenvrdnnng, Themen-
bildnng, Durchführung, Engführung und zwar einzig aus der Geltendmachung
der Principien der Mannigfaltigkeit und der Einheit an den elementaren
Wirknngsmitteln der Musik. Unzweifelhaft vermag die Musik, wenn sie in dieser
Weise Kunstgestaltung gewonnen hat, nicht nur zu ergötzen, sondern auch zu
ergreifen und zu erschüttern, ohne daß sie nachzuahmen, zu schildern, darzustellen
brauchte; vielmehr kann sie ohne Beziehung zum Verlauf von Seelenzustünden
oder gar äußeren, unsere Stimmung leitenden Ereignissen, nur nach den ihr
gleichsam immanenten, jedenfalls sich für sie wie von selbst ergebenden Gesetzen
die der Phantasie entsprungenen Keime zur gedeihlichen Entwickelung bringen,
und wird dann mindestens um nichts tiefer zu stellen sein als jene einer an¬
dauernden Reflexion entsprungenen und durch den abwägenden Verstand weiter
ausgebildeten Kunstformen, welche dem Verlauf eines Tonstückes ein gedank¬
liches Programm unterlegen, welche die gesammte Musik zum -- Symbol
machen. In der Musik ist sogut wie in den bildenden Künsten die Symbolik
eine Möglichkeit, aber nicht eine Nothwendigkeit; der vieldeutige Ausdruck eines
sinnenden Menschenantlitzes gewinnt nicht an künstlerischem Werth, an Schön-


Elemente im Miteinander wird zum Conflict, zunächst in der Dissonanz als
Widerspruch zugleich vertretener Klänge gegen einander, im Sonatensatz als
Dnrchführungstheil, der die Themen zerstttckt und die Motive durch einander wirft,
als theilweise oder gänzliche Verkuppelung der beiden contrastirenden Themen,
oder auch nur durch Uebergang der rhythmischen Eigenthümlichkeit des einen in
das harmonische Beiwerk des anderen, als Auftreten des Hauptthemas in der
Tonart der Nebenthemas, und was sonst dergleichen der Componist an geist¬
reichen Combinationen ersinnen mag.

Der Conflict bedingt endlich die ästhetische Versöhnung, die letztmalige
Geltendmachung des Princips der Einheit über dem der Mannigfaltigkeit.
Dieselbe finden wir als Auflösung der Dissonanz, als Neugeburt der Themen
aus den Wirren des Durchführungstheils, im Sonatensatze als schließendes
Auftreten des zweiten Themas, welches wir als Contrast des ersten keimen
lernten, in der Tonart des ersten Themas, überhaupt als breite endliche Fest¬
setzung der Haupttonart, in den großen Formen als Uebereinstimmung des
Schlußsatzes in Character und Tonart mit dem ersten Satze. Stand der erste
Satz in einer Molltonart, so erscheint auch wohl der letzte Satz in der nächst-
verwandten gleichnamigen Durtvnart, den Schleier, welcher über dem Moll liegt,
hinwegziehend und dasselbe zum helleren, freudigerer Dur verklärend.




Die vorstehende Skizze der musikalischen Formgebung ist bei aller Kürze
doch ziemlich erschöpfend; sie erklärt Klangfvlge, Tonartenvrdnnng, Themen-
bildnng, Durchführung, Engführung und zwar einzig aus der Geltendmachung
der Principien der Mannigfaltigkeit und der Einheit an den elementaren
Wirknngsmitteln der Musik. Unzweifelhaft vermag die Musik, wenn sie in dieser
Weise Kunstgestaltung gewonnen hat, nicht nur zu ergötzen, sondern auch zu
ergreifen und zu erschüttern, ohne daß sie nachzuahmen, zu schildern, darzustellen
brauchte; vielmehr kann sie ohne Beziehung zum Verlauf von Seelenzustünden
oder gar äußeren, unsere Stimmung leitenden Ereignissen, nur nach den ihr
gleichsam immanenten, jedenfalls sich für sie wie von selbst ergebenden Gesetzen
die der Phantasie entsprungenen Keime zur gedeihlichen Entwickelung bringen,
und wird dann mindestens um nichts tiefer zu stellen sein als jene einer an¬
dauernden Reflexion entsprungenen und durch den abwägenden Verstand weiter
ausgebildeten Kunstformen, welche dem Verlauf eines Tonstückes ein gedank¬
liches Programm unterlegen, welche die gesammte Musik zum — Symbol
machen. In der Musik ist sogut wie in den bildenden Künsten die Symbolik
eine Möglichkeit, aber nicht eine Nothwendigkeit; der vieldeutige Ausdruck eines
sinnenden Menschenantlitzes gewinnt nicht an künstlerischem Werth, an Schön-


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[0238] Elemente im Miteinander wird zum Conflict, zunächst in der Dissonanz als Widerspruch zugleich vertretener Klänge gegen einander, im Sonatensatz als Dnrchführungstheil, der die Themen zerstttckt und die Motive durch einander wirft, als theilweise oder gänzliche Verkuppelung der beiden contrastirenden Themen, oder auch nur durch Uebergang der rhythmischen Eigenthümlichkeit des einen in das harmonische Beiwerk des anderen, als Auftreten des Hauptthemas in der Tonart der Nebenthemas, und was sonst dergleichen der Componist an geist¬ reichen Combinationen ersinnen mag. Der Conflict bedingt endlich die ästhetische Versöhnung, die letztmalige Geltendmachung des Princips der Einheit über dem der Mannigfaltigkeit. Dieselbe finden wir als Auflösung der Dissonanz, als Neugeburt der Themen aus den Wirren des Durchführungstheils, im Sonatensatze als schließendes Auftreten des zweiten Themas, welches wir als Contrast des ersten keimen lernten, in der Tonart des ersten Themas, überhaupt als breite endliche Fest¬ setzung der Haupttonart, in den großen Formen als Uebereinstimmung des Schlußsatzes in Character und Tonart mit dem ersten Satze. Stand der erste Satz in einer Molltonart, so erscheint auch wohl der letzte Satz in der nächst- verwandten gleichnamigen Durtvnart, den Schleier, welcher über dem Moll liegt, hinwegziehend und dasselbe zum helleren, freudigerer Dur verklärend. Die vorstehende Skizze der musikalischen Formgebung ist bei aller Kürze doch ziemlich erschöpfend; sie erklärt Klangfvlge, Tonartenvrdnnng, Themen- bildnng, Durchführung, Engführung und zwar einzig aus der Geltendmachung der Principien der Mannigfaltigkeit und der Einheit an den elementaren Wirknngsmitteln der Musik. Unzweifelhaft vermag die Musik, wenn sie in dieser Weise Kunstgestaltung gewonnen hat, nicht nur zu ergötzen, sondern auch zu ergreifen und zu erschüttern, ohne daß sie nachzuahmen, zu schildern, darzustellen brauchte; vielmehr kann sie ohne Beziehung zum Verlauf von Seelenzustünden oder gar äußeren, unsere Stimmung leitenden Ereignissen, nur nach den ihr gleichsam immanenten, jedenfalls sich für sie wie von selbst ergebenden Gesetzen die der Phantasie entsprungenen Keime zur gedeihlichen Entwickelung bringen, und wird dann mindestens um nichts tiefer zu stellen sein als jene einer an¬ dauernden Reflexion entsprungenen und durch den abwägenden Verstand weiter ausgebildeten Kunstformen, welche dem Verlauf eines Tonstückes ein gedank¬ liches Programm unterlegen, welche die gesammte Musik zum — Symbol machen. In der Musik ist sogut wie in den bildenden Künsten die Symbolik eine Möglichkeit, aber nicht eine Nothwendigkeit; der vieldeutige Ausdruck eines sinnenden Menschenantlitzes gewinnt nicht an künstlerischem Werth, an Schön-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/238>, abgerufen am 23.07.2024.