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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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musikalischen Formgebung hin. Sehen wir nun zu, wie sich allem durch die
wechselnde Geltendmachung der Principien der Einheit und der Mannigfaltigkeit
gleichsam von selbst die Bildungsgesetze für das musikalische Kunstwerk ergeben.

Zunächst wird die Tonfvlge oder Aecordfolge durch Aufhebung der Will¬
kürlichkeit, durch die Bedingung der Übersichtlichkeit und des inneren Zusammen¬
hangs zum organischen Bilden, zum Werden, Wachsen. Als solches erscheint
schon die Harmonieverkettung, wenn aus einem Duraceorde der Duraccvrd
seiner Quinte gleichsam herauswächst, oder wenn er unter sich Wurzeln treibt
in den Duraccord seiner Unterquiut. Weiterhin haben wir aber noch deut¬
licher das Bild des organischen Wachsens in der musikalischen Themenbilduug
aus rhythmisch-melodischen Motiven; wie der Halm immer neue Glieder
emportreibt, so schießt Motiv an Motiv, sei es, daß dasselbe Motiv in anderer
Tonlage wiederholt wird, oder daß ein anderes dazwischen tritt, immer die
Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrend. Die Themenbildung wird zur
musikalischen Steigerung, wenn die Motive in höhere Tonlage sich hinaus¬
arbeiten, oder wenn sie rhythmisch lebendiger gestaltet oder harmonisch pikanter
gewürzt werden, ohne doch ihren melodisch-rhythmischen Grundcharakter zu ver¬
ändern. Schon die dynamische Steigerung allein, sei es durch stärkeres Spiel
derselben Instrumente oder durch Vermehrung der Zahl der Instrumente, ans
der Orgel durch Anziehen kräftigerer Register oder Uebergang auf ein Manual
mit stärkeren Stimmen, auf dem Clavier durch vollgriffigeres Spiel, vermag
diesen Eindruck hervorzubringen.

Am gewordenen, d. h. von dem in der Erinnerung sich aus dem Nacheinander
allmählich zum Miteinander aufbauenden Tonstücke erscheint Einheit in der
Mannigfaltigkeit als Symmetrie, nämlich als Parallelität rhythmischer Glieder,
als Wiederkehr von Themen, als pyramidale Gipfelung der Melodie, als
Wiederkehr der Tonarten, überhaupt als Ebenmaß in der ganzen Anlage.

Aber es kann auch die Verschiedenheit sich hervortretend geltend mache"
gegenüber der Einheit, so daß das Princip des Contrastes zur Erscheinung
kommt, welcher, sofern er nicht Disparates, sondern Disjunctes einander gegen¬
überstellt, einer höheren Einheitsbeziehung nicht entbehrt. Der Contrast erscheint
zuerst in der einfachen Ton- oder Aecordfolge als Auftreten eines anderen Klanges,
weiter als Wechsel der Tonart, als Auftreten eines zweiten, vom ersten in Tonart,
Rhythmik und Dynamik unterschiedenen Themas, in der Fuge als der dem Führer
gegenübertretende Gefährte, in der Doppelfuge als zweites Subject, für größere
mehrsätzige Formen als ein ganz anders angelegter zweiter Satz u. f. w. Auch
die Pause kann als künstlerisches Wirkungsmittel contrastirend zur Verwendung
kommen.

Das Aufeinanderplatzen der Gegensätze, der Kampf der contrastirenden


musikalischen Formgebung hin. Sehen wir nun zu, wie sich allem durch die
wechselnde Geltendmachung der Principien der Einheit und der Mannigfaltigkeit
gleichsam von selbst die Bildungsgesetze für das musikalische Kunstwerk ergeben.

Zunächst wird die Tonfvlge oder Aecordfolge durch Aufhebung der Will¬
kürlichkeit, durch die Bedingung der Übersichtlichkeit und des inneren Zusammen¬
hangs zum organischen Bilden, zum Werden, Wachsen. Als solches erscheint
schon die Harmonieverkettung, wenn aus einem Duraceorde der Duraccvrd
seiner Quinte gleichsam herauswächst, oder wenn er unter sich Wurzeln treibt
in den Duraccord seiner Unterquiut. Weiterhin haben wir aber noch deut¬
licher das Bild des organischen Wachsens in der musikalischen Themenbilduug
aus rhythmisch-melodischen Motiven; wie der Halm immer neue Glieder
emportreibt, so schießt Motiv an Motiv, sei es, daß dasselbe Motiv in anderer
Tonlage wiederholt wird, oder daß ein anderes dazwischen tritt, immer die
Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrend. Die Themenbildung wird zur
musikalischen Steigerung, wenn die Motive in höhere Tonlage sich hinaus¬
arbeiten, oder wenn sie rhythmisch lebendiger gestaltet oder harmonisch pikanter
gewürzt werden, ohne doch ihren melodisch-rhythmischen Grundcharakter zu ver¬
ändern. Schon die dynamische Steigerung allein, sei es durch stärkeres Spiel
derselben Instrumente oder durch Vermehrung der Zahl der Instrumente, ans
der Orgel durch Anziehen kräftigerer Register oder Uebergang auf ein Manual
mit stärkeren Stimmen, auf dem Clavier durch vollgriffigeres Spiel, vermag
diesen Eindruck hervorzubringen.

Am gewordenen, d. h. von dem in der Erinnerung sich aus dem Nacheinander
allmählich zum Miteinander aufbauenden Tonstücke erscheint Einheit in der
Mannigfaltigkeit als Symmetrie, nämlich als Parallelität rhythmischer Glieder,
als Wiederkehr von Themen, als pyramidale Gipfelung der Melodie, als
Wiederkehr der Tonarten, überhaupt als Ebenmaß in der ganzen Anlage.

Aber es kann auch die Verschiedenheit sich hervortretend geltend mache»
gegenüber der Einheit, so daß das Princip des Contrastes zur Erscheinung
kommt, welcher, sofern er nicht Disparates, sondern Disjunctes einander gegen¬
überstellt, einer höheren Einheitsbeziehung nicht entbehrt. Der Contrast erscheint
zuerst in der einfachen Ton- oder Aecordfolge als Auftreten eines anderen Klanges,
weiter als Wechsel der Tonart, als Auftreten eines zweiten, vom ersten in Tonart,
Rhythmik und Dynamik unterschiedenen Themas, in der Fuge als der dem Führer
gegenübertretende Gefährte, in der Doppelfuge als zweites Subject, für größere
mehrsätzige Formen als ein ganz anders angelegter zweiter Satz u. f. w. Auch
die Pause kann als künstlerisches Wirkungsmittel contrastirend zur Verwendung
kommen.

Das Aufeinanderplatzen der Gegensätze, der Kampf der contrastirenden


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[0237] musikalischen Formgebung hin. Sehen wir nun zu, wie sich allem durch die wechselnde Geltendmachung der Principien der Einheit und der Mannigfaltigkeit gleichsam von selbst die Bildungsgesetze für das musikalische Kunstwerk ergeben. Zunächst wird die Tonfvlge oder Aecordfolge durch Aufhebung der Will¬ kürlichkeit, durch die Bedingung der Übersichtlichkeit und des inneren Zusammen¬ hangs zum organischen Bilden, zum Werden, Wachsen. Als solches erscheint schon die Harmonieverkettung, wenn aus einem Duraceorde der Duraccvrd seiner Quinte gleichsam herauswächst, oder wenn er unter sich Wurzeln treibt in den Duraccord seiner Unterquiut. Weiterhin haben wir aber noch deut¬ licher das Bild des organischen Wachsens in der musikalischen Themenbilduug aus rhythmisch-melodischen Motiven; wie der Halm immer neue Glieder emportreibt, so schießt Motiv an Motiv, sei es, daß dasselbe Motiv in anderer Tonlage wiederholt wird, oder daß ein anderes dazwischen tritt, immer die Einheit in der Mannigfaltigkeit wahrend. Die Themenbildung wird zur musikalischen Steigerung, wenn die Motive in höhere Tonlage sich hinaus¬ arbeiten, oder wenn sie rhythmisch lebendiger gestaltet oder harmonisch pikanter gewürzt werden, ohne doch ihren melodisch-rhythmischen Grundcharakter zu ver¬ ändern. Schon die dynamische Steigerung allein, sei es durch stärkeres Spiel derselben Instrumente oder durch Vermehrung der Zahl der Instrumente, ans der Orgel durch Anziehen kräftigerer Register oder Uebergang auf ein Manual mit stärkeren Stimmen, auf dem Clavier durch vollgriffigeres Spiel, vermag diesen Eindruck hervorzubringen. Am gewordenen, d. h. von dem in der Erinnerung sich aus dem Nacheinander allmählich zum Miteinander aufbauenden Tonstücke erscheint Einheit in der Mannigfaltigkeit als Symmetrie, nämlich als Parallelität rhythmischer Glieder, als Wiederkehr von Themen, als pyramidale Gipfelung der Melodie, als Wiederkehr der Tonarten, überhaupt als Ebenmaß in der ganzen Anlage. Aber es kann auch die Verschiedenheit sich hervortretend geltend mache» gegenüber der Einheit, so daß das Princip des Contrastes zur Erscheinung kommt, welcher, sofern er nicht Disparates, sondern Disjunctes einander gegen¬ überstellt, einer höheren Einheitsbeziehung nicht entbehrt. Der Contrast erscheint zuerst in der einfachen Ton- oder Aecordfolge als Auftreten eines anderen Klanges, weiter als Wechsel der Tonart, als Auftreten eines zweiten, vom ersten in Tonart, Rhythmik und Dynamik unterschiedenen Themas, in der Fuge als der dem Führer gegenübertretende Gefährte, in der Doppelfuge als zweites Subject, für größere mehrsätzige Formen als ein ganz anders angelegter zweiter Satz u. f. w. Auch die Pause kann als künstlerisches Wirkungsmittel contrastirend zur Verwendung kommen. Das Aufeinanderplatzen der Gegensätze, der Kampf der contrastirenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/237>, abgerufen am 23.07.2024.