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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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z. B. an der in unserem Zimmer hängenden Uhr; ein Mensch wird schnell zu
gehen scheinen, wenn er seine Beine viel schneller bewegt, als dies gewöhnlich
beim Gehen zu geschehen Pflegt. Nichtsdestoweniger existirt für das Pendel
ein Mittel, welches nicht das Mittel zwischen den langsamsten und schnellsten
üblichen Pendelbewegungen ist, soudern ein davon unabhängiges und abweichendes;
das Pendel an einer großen Thurmuhr bewegt sich sovielmal langsamer als
das einer Stutzuhr, daß die Mitte viel weiter auf die Seite der Langsamkeit
fallen müßte, als sie thatsächlich fällt. Um kurz zu sein: die Mitte der Be-
wegungsgeschwindigkeitsempfindung fällt ungefähr zusammen mit der Ge¬
schwindigkeit des Pulsschlages. Wir sagen ungefähr, denn nach beiden Seiten
ist noch ein erheblicher Spielraum gelassen, ehe mit Entschiedenheit die Empfin¬
dung der Schnelligkeit oder Langsamkeit sich geltend macht; mit Fechner zu reden:
die Schwelle ist nach beiden Seiten eine breite. Ohne eine Norm aufstellen zu
wollen oder zu können, möchten wir aus unseren bisherigen Erfahrungen con-
statiren, daß etwa zwischen 60 und 120 Schlägen in der Minute jene breite
Mitte liegt. Daß wirklich der Pulsschlag dabei eine Rolle spielt, scheint auch
daraus hervorzugehen, daß uns in aufgeregter Stimmung, d. h. wenn unser
Puls schnell geht, Bewegungen langsamer erscheinen. Es wird gewiß nicht
schwer sein, eine umständliche psychophysische Begründung für diese Neigung zu
geben, die Zeit von einem Pulsschläge zum anderen als Zeiteinheit aufzufassen;
doch würde die genauere Bestimmung der beiden Schwellen eine große Anzahl
von Versuchsreihen erfordern.

Auf dieser mittleren Empfindung basirt die elementare Wirkung des Rhyth¬
mus, sofern wir denselben zunächst einfach als Maß der Bewegung auffassen.
Das Fortreißende einer schnellen, das Mäßigende, Bändigende, Hemmende, ja
selbst Beängstigende einer langsamen Bewegung sind ohne Frage ganz elemen¬
tare, von jeglicher Reflexion und Ideenassociation unabhängige Wirkungen. Eine
Folge von Schlägen, die vielmal schneller sind als die der Schwelle nahelie¬
genden, werden wir gern durch Zusammenfassen mehrerer Schläge zu einer Zeit¬
einheit der Mitte nahe bringen, und ebenso werden wir gern die vielmal lang¬
sameren durch gedachte, eingeschobene verbinden und so ebenfalls der Mitte nahe
kommen. Diese Gliederung ist freilich ohne anderweite Hilfe kaum möglich;
eine endlose Reise gleichstarker Schläge in Gruppen von drei oder vier zu zer¬
legen ist eine Arbeit, die den Geist stark anstrengt. Dagegen ist die Gliederung
direct gegeben, wenn jeder dritte oder vierte Schlag stärker ist als die andere".
In dieser Weise regelmäßig gliedernd ist freilich die verschiedene Dynamik als
Accent schon ein entschiedenes Kunflelement, auch die künstlichen Hemmungen
und Beschleunigungen der allgemeinen zu Grunde liegenden Bewegungsart durch
Zusammenziehung mehrerer Takteinheiten zu Noten längerer Geltung oder durch


z. B. an der in unserem Zimmer hängenden Uhr; ein Mensch wird schnell zu
gehen scheinen, wenn er seine Beine viel schneller bewegt, als dies gewöhnlich
beim Gehen zu geschehen Pflegt. Nichtsdestoweniger existirt für das Pendel
ein Mittel, welches nicht das Mittel zwischen den langsamsten und schnellsten
üblichen Pendelbewegungen ist, soudern ein davon unabhängiges und abweichendes;
das Pendel an einer großen Thurmuhr bewegt sich sovielmal langsamer als
das einer Stutzuhr, daß die Mitte viel weiter auf die Seite der Langsamkeit
fallen müßte, als sie thatsächlich fällt. Um kurz zu sein: die Mitte der Be-
wegungsgeschwindigkeitsempfindung fällt ungefähr zusammen mit der Ge¬
schwindigkeit des Pulsschlages. Wir sagen ungefähr, denn nach beiden Seiten
ist noch ein erheblicher Spielraum gelassen, ehe mit Entschiedenheit die Empfin¬
dung der Schnelligkeit oder Langsamkeit sich geltend macht; mit Fechner zu reden:
die Schwelle ist nach beiden Seiten eine breite. Ohne eine Norm aufstellen zu
wollen oder zu können, möchten wir aus unseren bisherigen Erfahrungen con-
statiren, daß etwa zwischen 60 und 120 Schlägen in der Minute jene breite
Mitte liegt. Daß wirklich der Pulsschlag dabei eine Rolle spielt, scheint auch
daraus hervorzugehen, daß uns in aufgeregter Stimmung, d. h. wenn unser
Puls schnell geht, Bewegungen langsamer erscheinen. Es wird gewiß nicht
schwer sein, eine umständliche psychophysische Begründung für diese Neigung zu
geben, die Zeit von einem Pulsschläge zum anderen als Zeiteinheit aufzufassen;
doch würde die genauere Bestimmung der beiden Schwellen eine große Anzahl
von Versuchsreihen erfordern.

Auf dieser mittleren Empfindung basirt die elementare Wirkung des Rhyth¬
mus, sofern wir denselben zunächst einfach als Maß der Bewegung auffassen.
Das Fortreißende einer schnellen, das Mäßigende, Bändigende, Hemmende, ja
selbst Beängstigende einer langsamen Bewegung sind ohne Frage ganz elemen¬
tare, von jeglicher Reflexion und Ideenassociation unabhängige Wirkungen. Eine
Folge von Schlägen, die vielmal schneller sind als die der Schwelle nahelie¬
genden, werden wir gern durch Zusammenfassen mehrerer Schläge zu einer Zeit¬
einheit der Mitte nahe bringen, und ebenso werden wir gern die vielmal lang¬
sameren durch gedachte, eingeschobene verbinden und so ebenfalls der Mitte nahe
kommen. Diese Gliederung ist freilich ohne anderweite Hilfe kaum möglich;
eine endlose Reise gleichstarker Schläge in Gruppen von drei oder vier zu zer¬
legen ist eine Arbeit, die den Geist stark anstrengt. Dagegen ist die Gliederung
direct gegeben, wenn jeder dritte oder vierte Schlag stärker ist als die andere».
In dieser Weise regelmäßig gliedernd ist freilich die verschiedene Dynamik als
Accent schon ein entschiedenes Kunflelement, auch die künstlichen Hemmungen
und Beschleunigungen der allgemeinen zu Grunde liegenden Bewegungsart durch
Zusammenziehung mehrerer Takteinheiten zu Noten längerer Geltung oder durch


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[0233] z. B. an der in unserem Zimmer hängenden Uhr; ein Mensch wird schnell zu gehen scheinen, wenn er seine Beine viel schneller bewegt, als dies gewöhnlich beim Gehen zu geschehen Pflegt. Nichtsdestoweniger existirt für das Pendel ein Mittel, welches nicht das Mittel zwischen den langsamsten und schnellsten üblichen Pendelbewegungen ist, soudern ein davon unabhängiges und abweichendes; das Pendel an einer großen Thurmuhr bewegt sich sovielmal langsamer als das einer Stutzuhr, daß die Mitte viel weiter auf die Seite der Langsamkeit fallen müßte, als sie thatsächlich fällt. Um kurz zu sein: die Mitte der Be- wegungsgeschwindigkeitsempfindung fällt ungefähr zusammen mit der Ge¬ schwindigkeit des Pulsschlages. Wir sagen ungefähr, denn nach beiden Seiten ist noch ein erheblicher Spielraum gelassen, ehe mit Entschiedenheit die Empfin¬ dung der Schnelligkeit oder Langsamkeit sich geltend macht; mit Fechner zu reden: die Schwelle ist nach beiden Seiten eine breite. Ohne eine Norm aufstellen zu wollen oder zu können, möchten wir aus unseren bisherigen Erfahrungen con- statiren, daß etwa zwischen 60 und 120 Schlägen in der Minute jene breite Mitte liegt. Daß wirklich der Pulsschlag dabei eine Rolle spielt, scheint auch daraus hervorzugehen, daß uns in aufgeregter Stimmung, d. h. wenn unser Puls schnell geht, Bewegungen langsamer erscheinen. Es wird gewiß nicht schwer sein, eine umständliche psychophysische Begründung für diese Neigung zu geben, die Zeit von einem Pulsschläge zum anderen als Zeiteinheit aufzufassen; doch würde die genauere Bestimmung der beiden Schwellen eine große Anzahl von Versuchsreihen erfordern. Auf dieser mittleren Empfindung basirt die elementare Wirkung des Rhyth¬ mus, sofern wir denselben zunächst einfach als Maß der Bewegung auffassen. Das Fortreißende einer schnellen, das Mäßigende, Bändigende, Hemmende, ja selbst Beängstigende einer langsamen Bewegung sind ohne Frage ganz elemen¬ tare, von jeglicher Reflexion und Ideenassociation unabhängige Wirkungen. Eine Folge von Schlägen, die vielmal schneller sind als die der Schwelle nahelie¬ genden, werden wir gern durch Zusammenfassen mehrerer Schläge zu einer Zeit¬ einheit der Mitte nahe bringen, und ebenso werden wir gern die vielmal lang¬ sameren durch gedachte, eingeschobene verbinden und so ebenfalls der Mitte nahe kommen. Diese Gliederung ist freilich ohne anderweite Hilfe kaum möglich; eine endlose Reise gleichstarker Schläge in Gruppen von drei oder vier zu zer¬ legen ist eine Arbeit, die den Geist stark anstrengt. Dagegen ist die Gliederung direct gegeben, wenn jeder dritte oder vierte Schlag stärker ist als die andere». In dieser Weise regelmäßig gliedernd ist freilich die verschiedene Dynamik als Accent schon ein entschiedenes Kunflelement, auch die künstlichen Hemmungen und Beschleunigungen der allgemeinen zu Grunde liegenden Bewegungsart durch Zusammenziehung mehrerer Takteinheiten zu Noten längerer Geltung oder durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/233>, abgerufen am 25.08.2024.