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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Kothurn sicherlich nicht Unrecht hatten, so wenig wir uns auch heutzutage die
mit ihm nothwendig verbundene Feierlichkeit und vielleicht auch Steifheit in
der Bewegung gefallen lassen würden -- unsre Ansprüche auf Naturwahrheit
sind zu sehr gewachsen: in demselben Maße werden wir aber auch auf das über¬
wältigend Großartige in der Darstellung verzichten müssen. Um so bedeutender
kann aber die Wirkung des lebenden Bildes werden, wenn wir mit dem Gegen¬
stande der Darstellung in die Sphäre der Alltäglichkeit herabsteigen und zum
Genrebilde greifen, welches ja ebensowenig wie das Schauspiel und Lustspiel der
künstlerischen Tiefe zu entbehren braucht und welches überdies den Vorzug der
gleichen Sphäre mit Darstellern und Beschauern hat.

Sobald die Kunst die großen Gegenstände verläßt, welche, wie besonders
die religiösen, die Gesammtheit der Menschen zu ergreifen und ihr Interesse zu
fesseln vermögen, so kann sie für die kleinen und oft unbedeutenden Ereignisse
des alltäglichen Lebens, das sie nun zu schildern unternimmt, nur dadurch
allgemeine Theilnahme erwecken, daß sie mit vollkommener Naivetät und ganz
selbstverständlich diese kleinen Ereignisse als etwas Selbständiges ausführt, dessen
Geschehen mit einem Ernste, einer Wichtigkeit, einem Sichversenken in die Sache
vor sich geht, als ob es daneben nichts Wichtigeres auf der Welt, ja als ob
es daneben überhaupt nichts auf der Welt gäbe. Gerade dadurch gewinnt das
kleine Ereigniß eine große Bedeutung: im engen Raume wird der Zwerg zum
Riesen. Je unbefangener der Künstler diesen Weg geht, um so leichter werden
wir ihm glauben und folgen, während umgekehrt die künstlerische Wirkung um
so sicherer aushört, je mehr bei seinem Verfahren die Absichtlichkeit sich fühlbar
macht. Hierauf beruht die bedeutende Wirkung, welche in manchen Zeiten die
Genremaler erreicht haben: sie kamen wie eine Erlösung von unleidlich gewor¬
denem Zwange und gaben den Menschen sich selbst und der heiteren Freude an
seinem täglichen Treiben wieder, das nun gleichfalls der läuternden Kraft der
Kunst würdig erschien, also doch mehr Gehalt haben mußte, als ihm vielleicht
mancher zugestehen mochte. So war es in der uns noch nicht fern liegen¬
den Zeit nach dem Auftreten der Ncizarener, so bei der neuen Blüthe der
niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert. Und diese Richtung ist es, der
auch unsere Zeit mit der lebhaftesten Theilnahme, mit dem entschiedensten Ver¬
ständniß entgegenkommt. So fanden denn auch unter den lebenden Bildern die
gerade dieser Richtung angehörenden den reichsten Beifall. Jakob Beckers "Heim¬
kehrende Schnitter" in der dankbaren hessischen Tracht haben in ihrer Compo-
sition, der Dreitheilung mit dem pyramidalen Aufbau, außerdem noch ein Ele¬
ment, welches die Nähe der vorhergehenden auch nach dieser Seite hin stren¬
geren Richtung deutlich erkennen läßt, und welches sich doch leicht und frei
mit der Naturwahrscheinlichkeit vereinigt, so daß gerade diese Darstellung als


Kothurn sicherlich nicht Unrecht hatten, so wenig wir uns auch heutzutage die
mit ihm nothwendig verbundene Feierlichkeit und vielleicht auch Steifheit in
der Bewegung gefallen lassen würden — unsre Ansprüche auf Naturwahrheit
sind zu sehr gewachsen: in demselben Maße werden wir aber auch auf das über¬
wältigend Großartige in der Darstellung verzichten müssen. Um so bedeutender
kann aber die Wirkung des lebenden Bildes werden, wenn wir mit dem Gegen¬
stande der Darstellung in die Sphäre der Alltäglichkeit herabsteigen und zum
Genrebilde greifen, welches ja ebensowenig wie das Schauspiel und Lustspiel der
künstlerischen Tiefe zu entbehren braucht und welches überdies den Vorzug der
gleichen Sphäre mit Darstellern und Beschauern hat.

Sobald die Kunst die großen Gegenstände verläßt, welche, wie besonders
die religiösen, die Gesammtheit der Menschen zu ergreifen und ihr Interesse zu
fesseln vermögen, so kann sie für die kleinen und oft unbedeutenden Ereignisse
des alltäglichen Lebens, das sie nun zu schildern unternimmt, nur dadurch
allgemeine Theilnahme erwecken, daß sie mit vollkommener Naivetät und ganz
selbstverständlich diese kleinen Ereignisse als etwas Selbständiges ausführt, dessen
Geschehen mit einem Ernste, einer Wichtigkeit, einem Sichversenken in die Sache
vor sich geht, als ob es daneben nichts Wichtigeres auf der Welt, ja als ob
es daneben überhaupt nichts auf der Welt gäbe. Gerade dadurch gewinnt das
kleine Ereigniß eine große Bedeutung: im engen Raume wird der Zwerg zum
Riesen. Je unbefangener der Künstler diesen Weg geht, um so leichter werden
wir ihm glauben und folgen, während umgekehrt die künstlerische Wirkung um
so sicherer aushört, je mehr bei seinem Verfahren die Absichtlichkeit sich fühlbar
macht. Hierauf beruht die bedeutende Wirkung, welche in manchen Zeiten die
Genremaler erreicht haben: sie kamen wie eine Erlösung von unleidlich gewor¬
denem Zwange und gaben den Menschen sich selbst und der heiteren Freude an
seinem täglichen Treiben wieder, das nun gleichfalls der läuternden Kraft der
Kunst würdig erschien, also doch mehr Gehalt haben mußte, als ihm vielleicht
mancher zugestehen mochte. So war es in der uns noch nicht fern liegen¬
den Zeit nach dem Auftreten der Ncizarener, so bei der neuen Blüthe der
niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert. Und diese Richtung ist es, der
auch unsere Zeit mit der lebhaftesten Theilnahme, mit dem entschiedensten Ver¬
ständniß entgegenkommt. So fanden denn auch unter den lebenden Bildern die
gerade dieser Richtung angehörenden den reichsten Beifall. Jakob Beckers „Heim¬
kehrende Schnitter" in der dankbaren hessischen Tracht haben in ihrer Compo-
sition, der Dreitheilung mit dem pyramidalen Aufbau, außerdem noch ein Ele¬
ment, welches die Nähe der vorhergehenden auch nach dieser Seite hin stren¬
geren Richtung deutlich erkennen läßt, und welches sich doch leicht und frei
mit der Naturwahrscheinlichkeit vereinigt, so daß gerade diese Darstellung als


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[0198] Kothurn sicherlich nicht Unrecht hatten, so wenig wir uns auch heutzutage die mit ihm nothwendig verbundene Feierlichkeit und vielleicht auch Steifheit in der Bewegung gefallen lassen würden — unsre Ansprüche auf Naturwahrheit sind zu sehr gewachsen: in demselben Maße werden wir aber auch auf das über¬ wältigend Großartige in der Darstellung verzichten müssen. Um so bedeutender kann aber die Wirkung des lebenden Bildes werden, wenn wir mit dem Gegen¬ stande der Darstellung in die Sphäre der Alltäglichkeit herabsteigen und zum Genrebilde greifen, welches ja ebensowenig wie das Schauspiel und Lustspiel der künstlerischen Tiefe zu entbehren braucht und welches überdies den Vorzug der gleichen Sphäre mit Darstellern und Beschauern hat. Sobald die Kunst die großen Gegenstände verläßt, welche, wie besonders die religiösen, die Gesammtheit der Menschen zu ergreifen und ihr Interesse zu fesseln vermögen, so kann sie für die kleinen und oft unbedeutenden Ereignisse des alltäglichen Lebens, das sie nun zu schildern unternimmt, nur dadurch allgemeine Theilnahme erwecken, daß sie mit vollkommener Naivetät und ganz selbstverständlich diese kleinen Ereignisse als etwas Selbständiges ausführt, dessen Geschehen mit einem Ernste, einer Wichtigkeit, einem Sichversenken in die Sache vor sich geht, als ob es daneben nichts Wichtigeres auf der Welt, ja als ob es daneben überhaupt nichts auf der Welt gäbe. Gerade dadurch gewinnt das kleine Ereigniß eine große Bedeutung: im engen Raume wird der Zwerg zum Riesen. Je unbefangener der Künstler diesen Weg geht, um so leichter werden wir ihm glauben und folgen, während umgekehrt die künstlerische Wirkung um so sicherer aushört, je mehr bei seinem Verfahren die Absichtlichkeit sich fühlbar macht. Hierauf beruht die bedeutende Wirkung, welche in manchen Zeiten die Genremaler erreicht haben: sie kamen wie eine Erlösung von unleidlich gewor¬ denem Zwange und gaben den Menschen sich selbst und der heiteren Freude an seinem täglichen Treiben wieder, das nun gleichfalls der läuternden Kraft der Kunst würdig erschien, also doch mehr Gehalt haben mußte, als ihm vielleicht mancher zugestehen mochte. So war es in der uns noch nicht fern liegen¬ den Zeit nach dem Auftreten der Ncizarener, so bei der neuen Blüthe der niederländischen Malerei im 17. Jahrhundert. Und diese Richtung ist es, der auch unsere Zeit mit der lebhaftesten Theilnahme, mit dem entschiedensten Ver¬ ständniß entgegenkommt. So fanden denn auch unter den lebenden Bildern die gerade dieser Richtung angehörenden den reichsten Beifall. Jakob Beckers „Heim¬ kehrende Schnitter" in der dankbaren hessischen Tracht haben in ihrer Compo- sition, der Dreitheilung mit dem pyramidalen Aufbau, außerdem noch ein Ele¬ ment, welches die Nähe der vorhergehenden auch nach dieser Seite hin stren¬ geren Richtung deutlich erkennen läßt, und welches sich doch leicht und frei mit der Naturwahrscheinlichkeit vereinigt, so daß gerade diese Darstellung als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/198>, abgerufen am 23.07.2024.