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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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gegenüber wohl als Ahnung überkommt; diese Ahnung aber wird keine Ge¬
wißheit, weil wir sie nicht bis auf ihre Quelle zurückverfolgen können. Die
Einzelerscheinung, welche sie uns erweckt hat, tritt durch die. Fülle der Compli-
cationen, in welchen sie mit den sie beeinflussenden und von ihr beeinflußten
Dingen um sie her steht, alsbald aus der Einzelbetrachtung heraus, und der
Faden, den man bis ans Ende zu verfolge" gehofft hatte, verliert sich in un¬
ergründliche Labyrinthe -- in der Natur läßt sich eben auf die Dauer keine
Einzelerscheinung als Ganzes herausgreife", die Natur ist selbst das Ganze, das
als solches zu erfassen wir verzweifeln müssen.' Da kommt die Kunst als Erlöserin,
giebt der Einzelerscheinung eine Selbständigkeit, die sie als in sich abgeschlossenes
Ganzes auftreten läßt, und wir empfinden die Lust, das Walten eines uns
verständlichen, in seiner Begrenzung faßbaren Gesetzes zu fühlen, welches das
Widerspenstige uuter sich beugt und es mit sich fortreißt, mitzuwirken an der
Schöpfung eines Wesens höherer Art, in welchem harmonische Ordnung waltet,
jener Zustand der Befriedigung, den wir in und außer uns suchen und in der
Wirklichkeit im besten Falle in einzelnen Momenten, nie aber auf die Dauer
finden. In der Kunstschöpfung aber ist er zu einer Wirklichkeit geworden, der
zwar das natürliche Leben fehlt, die aber dafür die Gewähr der Dauer des
errungenen Zustandes durch die Unwandelbarkeit seiner Erscheinung giebt.

Liegt so das Wesen der Kunstschöpfung im Gegensatze zur Naturschöpfung
in der leicht erkennbaren Gesetzmäßigkeit, welche in der Vereinigung aller ein¬
zelnen Theile zu einem Ganzen waltet, so ergeben sich die Folgen für die Ge¬
staltung der Kunstschöpfung leicht. Das ihr zu Grunde liegende Vorbild aus,
der Wirklichkeit muß alles dessen entledigt werden, was, weil wir seinen tieferen
Zusammenhang mit dem Ganzen nicht kennen, uns als Zufälligkeit erscheint
und in der Nachbildung störend wirken müßte, da es sich der dort zum Ausdruck
kommenden, das neue Ganze gestaltenden Gesetzmäßigkeit nicht einfügen könnte.
Andrerseits müssen die in der natürlichen Erscheinung gebotenen, der gestaltenden
Gesetzmäßigkeit gemäßen Keime so ausgebildet werden, als hätte in der natürlichen
Erscheinung eben diese Gesetzmäßigkeit als einzig bedingendes Element gewirkt,
gegen welches alle die anderen in der Wirklichkeit thatsächlich mitarbeitenden
Bedingungen ganz zurückgetreten wären. Diese neue, alles Zufälligen entkleidete
und eine höhere, alles Einzelne zweckvoll gestaltende und einreihende Ordnung
verkündende Schöpfung, die man im Verhältniß zur Naturerscheinung eine
ideale, im Verhältniß zu dein schöpferischen Individuum, das ihr die ihm inne¬
wohnende, seiner Eigenart naturgemäß entspringende Gesetzmäßigkeit aufgeprägt
hat, eine stilvolle nennen kann, muß diese in ihr waltende Gesetzmäßigkeit in
jedem einzelnen Falle mit verlMnißmüßig gleicher Klarheit zur Empfindung
bringen. Da aber die in verschiedenen Zeiten herrschende Empfänglichkeit eine


gegenüber wohl als Ahnung überkommt; diese Ahnung aber wird keine Ge¬
wißheit, weil wir sie nicht bis auf ihre Quelle zurückverfolgen können. Die
Einzelerscheinung, welche sie uns erweckt hat, tritt durch die. Fülle der Compli-
cationen, in welchen sie mit den sie beeinflussenden und von ihr beeinflußten
Dingen um sie her steht, alsbald aus der Einzelbetrachtung heraus, und der
Faden, den man bis ans Ende zu verfolge« gehofft hatte, verliert sich in un¬
ergründliche Labyrinthe — in der Natur läßt sich eben auf die Dauer keine
Einzelerscheinung als Ganzes herausgreife«, die Natur ist selbst das Ganze, das
als solches zu erfassen wir verzweifeln müssen.' Da kommt die Kunst als Erlöserin,
giebt der Einzelerscheinung eine Selbständigkeit, die sie als in sich abgeschlossenes
Ganzes auftreten läßt, und wir empfinden die Lust, das Walten eines uns
verständlichen, in seiner Begrenzung faßbaren Gesetzes zu fühlen, welches das
Widerspenstige uuter sich beugt und es mit sich fortreißt, mitzuwirken an der
Schöpfung eines Wesens höherer Art, in welchem harmonische Ordnung waltet,
jener Zustand der Befriedigung, den wir in und außer uns suchen und in der
Wirklichkeit im besten Falle in einzelnen Momenten, nie aber auf die Dauer
finden. In der Kunstschöpfung aber ist er zu einer Wirklichkeit geworden, der
zwar das natürliche Leben fehlt, die aber dafür die Gewähr der Dauer des
errungenen Zustandes durch die Unwandelbarkeit seiner Erscheinung giebt.

Liegt so das Wesen der Kunstschöpfung im Gegensatze zur Naturschöpfung
in der leicht erkennbaren Gesetzmäßigkeit, welche in der Vereinigung aller ein¬
zelnen Theile zu einem Ganzen waltet, so ergeben sich die Folgen für die Ge¬
staltung der Kunstschöpfung leicht. Das ihr zu Grunde liegende Vorbild aus,
der Wirklichkeit muß alles dessen entledigt werden, was, weil wir seinen tieferen
Zusammenhang mit dem Ganzen nicht kennen, uns als Zufälligkeit erscheint
und in der Nachbildung störend wirken müßte, da es sich der dort zum Ausdruck
kommenden, das neue Ganze gestaltenden Gesetzmäßigkeit nicht einfügen könnte.
Andrerseits müssen die in der natürlichen Erscheinung gebotenen, der gestaltenden
Gesetzmäßigkeit gemäßen Keime so ausgebildet werden, als hätte in der natürlichen
Erscheinung eben diese Gesetzmäßigkeit als einzig bedingendes Element gewirkt,
gegen welches alle die anderen in der Wirklichkeit thatsächlich mitarbeitenden
Bedingungen ganz zurückgetreten wären. Diese neue, alles Zufälligen entkleidete
und eine höhere, alles Einzelne zweckvoll gestaltende und einreihende Ordnung
verkündende Schöpfung, die man im Verhältniß zur Naturerscheinung eine
ideale, im Verhältniß zu dein schöpferischen Individuum, das ihr die ihm inne¬
wohnende, seiner Eigenart naturgemäß entspringende Gesetzmäßigkeit aufgeprägt
hat, eine stilvolle nennen kann, muß diese in ihr waltende Gesetzmäßigkeit in
jedem einzelnen Falle mit verlMnißmüßig gleicher Klarheit zur Empfindung
bringen. Da aber die in verschiedenen Zeiten herrschende Empfänglichkeit eine


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[0191] gegenüber wohl als Ahnung überkommt; diese Ahnung aber wird keine Ge¬ wißheit, weil wir sie nicht bis auf ihre Quelle zurückverfolgen können. Die Einzelerscheinung, welche sie uns erweckt hat, tritt durch die. Fülle der Compli- cationen, in welchen sie mit den sie beeinflussenden und von ihr beeinflußten Dingen um sie her steht, alsbald aus der Einzelbetrachtung heraus, und der Faden, den man bis ans Ende zu verfolge« gehofft hatte, verliert sich in un¬ ergründliche Labyrinthe — in der Natur läßt sich eben auf die Dauer keine Einzelerscheinung als Ganzes herausgreife«, die Natur ist selbst das Ganze, das als solches zu erfassen wir verzweifeln müssen.' Da kommt die Kunst als Erlöserin, giebt der Einzelerscheinung eine Selbständigkeit, die sie als in sich abgeschlossenes Ganzes auftreten läßt, und wir empfinden die Lust, das Walten eines uns verständlichen, in seiner Begrenzung faßbaren Gesetzes zu fühlen, welches das Widerspenstige uuter sich beugt und es mit sich fortreißt, mitzuwirken an der Schöpfung eines Wesens höherer Art, in welchem harmonische Ordnung waltet, jener Zustand der Befriedigung, den wir in und außer uns suchen und in der Wirklichkeit im besten Falle in einzelnen Momenten, nie aber auf die Dauer finden. In der Kunstschöpfung aber ist er zu einer Wirklichkeit geworden, der zwar das natürliche Leben fehlt, die aber dafür die Gewähr der Dauer des errungenen Zustandes durch die Unwandelbarkeit seiner Erscheinung giebt. Liegt so das Wesen der Kunstschöpfung im Gegensatze zur Naturschöpfung in der leicht erkennbaren Gesetzmäßigkeit, welche in der Vereinigung aller ein¬ zelnen Theile zu einem Ganzen waltet, so ergeben sich die Folgen für die Ge¬ staltung der Kunstschöpfung leicht. Das ihr zu Grunde liegende Vorbild aus, der Wirklichkeit muß alles dessen entledigt werden, was, weil wir seinen tieferen Zusammenhang mit dem Ganzen nicht kennen, uns als Zufälligkeit erscheint und in der Nachbildung störend wirken müßte, da es sich der dort zum Ausdruck kommenden, das neue Ganze gestaltenden Gesetzmäßigkeit nicht einfügen könnte. Andrerseits müssen die in der natürlichen Erscheinung gebotenen, der gestaltenden Gesetzmäßigkeit gemäßen Keime so ausgebildet werden, als hätte in der natürlichen Erscheinung eben diese Gesetzmäßigkeit als einzig bedingendes Element gewirkt, gegen welches alle die anderen in der Wirklichkeit thatsächlich mitarbeitenden Bedingungen ganz zurückgetreten wären. Diese neue, alles Zufälligen entkleidete und eine höhere, alles Einzelne zweckvoll gestaltende und einreihende Ordnung verkündende Schöpfung, die man im Verhältniß zur Naturerscheinung eine ideale, im Verhältniß zu dein schöpferischen Individuum, das ihr die ihm inne¬ wohnende, seiner Eigenart naturgemäß entspringende Gesetzmäßigkeit aufgeprägt hat, eine stilvolle nennen kann, muß diese in ihr waltende Gesetzmäßigkeit in jedem einzelnen Falle mit verlMnißmüßig gleicher Klarheit zur Empfindung bringen. Da aber die in verschiedenen Zeiten herrschende Empfänglichkeit eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/191>, abgerufen am 25.08.2024.