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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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leidige Zerstreutheit! die doch den Schülern selbst mehr zur Plage gereicht, weil
nur ganz wenige nicht neben den verbotenen Gedanken sich doch noch bemühen
dem Lehrer zu folgen, also eine doppelte Gedankenreihe neben einander haben,
diese Qual der Seele. Sobald aber der Lehrer mehr als den Begriff, auch
das Bild eines Berges in sich selber auftauchen läßt, und deutet das nur an
durch den Stimmton (der mit den kleinsten Mitteln wunderbar malerisch und
nachempfindend zu wirken vermag), durch eine leichte Handbewegung nach oben,
auch durch ein Heben des Auges etwa (nur nicht theatralisch!), so wirkt das
in alle Schüler, die ihn ansehen, genau wie ein elektrischer Telegraph, selbst
der Zerstreute wacht unfehlbar auf, in allen Seelen entsteht sofort ausfüllend
ihr eignes Erfahrungsbild eines Berges -- und die auf einen Punkt gerichtete ge¬
sammelte Seele, die in Folge dieser Sammlung nun sofort thätig zu sein begehrt,
fragt: Was nun weiter? Sie find sämmtlich wieder auf der glücklichen Stufe des
Elementarschülers und sind wohlbemerkt jetzt sogleich in der rechten Verfassung,
um auch an dem Berge, an ihrem Berge allerlei zu verstehen und zu lernen,
auch Aeußerliches und Formelles, das ihnen nun nicht mehr haltlos in der
Luft schwebt, wie wenn es für sich, außer seinem wirklichen Zusammenhange
vorgebracht wird. Dies alte begriffliche Verfahren machte es freilich grade
umgekehrt, das löste die einzelnen Theile und Anhängsel von der Sache selbst,
um sie an sich betrachten zu lehren und den Geist an das Abstrahiren zu
gewöhnen, in dem man das Geheimniß des höheren Denkens fand -- das Ver¬
kehrteste, was es geben kann, ein Weg, von dem nun auch die wissenschaftliche
Forschung zurückzukehren beginnt."

"Oder, um das Mittel an etwas Höherem zu erproben, es kommt etwa
in einem Lesestücke das Wort mild vor, der Lehrer findet, daß es noch nicht
Alle kennen. Es war eine Zeit, da-setzte es dann zur Ausfüllung der Lücke
eine wohlgesetzte begriffliche Erklärung, eine sogenannte Definition, womöglich
alles in ein Ganzes gezwängt, daß vorn ein Artikel steht und zehn, zwölf
Worte weiter erst das dazu gehörige Substantiv, was die Klarheit ganz beson¬
ders fordert und nebenbei schönen Stil; und das mußte auch wohl so aus¬
wendig gelernt werden und eintönig hergesagt -- ja das war ja ein sichtbarer
Fortschritt des kindlichen Verstandes in die höhere Geisteswelt hinauf! eine hand¬
greifliche Bereicherung mit dem Inhalt der höheren Bildung! denn der wohl¬
geformte "Begriff" war ja nun im Gedächtnisse niedergelegt, so sicher und sichtbar
wie ein neuer Stein in einer Mineraliensammlung. Dies Verfahren ist wohl
längst abgethan -- aber ob ganz? ich fürchte, es spukt noch nach; denn noch
ziemlich allgemein ist die Meinung, die die Hauptquelle jenes Verfahrens war,
daß die Bildung eigentlich etwas dem Leben Entgegengesetztes sei, ein von der
Wirklichkeit ganz abgetrenntes Gebiet, das so zu sagen in der Luft schwebt und


leidige Zerstreutheit! die doch den Schülern selbst mehr zur Plage gereicht, weil
nur ganz wenige nicht neben den verbotenen Gedanken sich doch noch bemühen
dem Lehrer zu folgen, also eine doppelte Gedankenreihe neben einander haben,
diese Qual der Seele. Sobald aber der Lehrer mehr als den Begriff, auch
das Bild eines Berges in sich selber auftauchen läßt, und deutet das nur an
durch den Stimmton (der mit den kleinsten Mitteln wunderbar malerisch und
nachempfindend zu wirken vermag), durch eine leichte Handbewegung nach oben,
auch durch ein Heben des Auges etwa (nur nicht theatralisch!), so wirkt das
in alle Schüler, die ihn ansehen, genau wie ein elektrischer Telegraph, selbst
der Zerstreute wacht unfehlbar auf, in allen Seelen entsteht sofort ausfüllend
ihr eignes Erfahrungsbild eines Berges — und die auf einen Punkt gerichtete ge¬
sammelte Seele, die in Folge dieser Sammlung nun sofort thätig zu sein begehrt,
fragt: Was nun weiter? Sie find sämmtlich wieder auf der glücklichen Stufe des
Elementarschülers und sind wohlbemerkt jetzt sogleich in der rechten Verfassung,
um auch an dem Berge, an ihrem Berge allerlei zu verstehen und zu lernen,
auch Aeußerliches und Formelles, das ihnen nun nicht mehr haltlos in der
Luft schwebt, wie wenn es für sich, außer seinem wirklichen Zusammenhange
vorgebracht wird. Dies alte begriffliche Verfahren machte es freilich grade
umgekehrt, das löste die einzelnen Theile und Anhängsel von der Sache selbst,
um sie an sich betrachten zu lehren und den Geist an das Abstrahiren zu
gewöhnen, in dem man das Geheimniß des höheren Denkens fand — das Ver¬
kehrteste, was es geben kann, ein Weg, von dem nun auch die wissenschaftliche
Forschung zurückzukehren beginnt."

„Oder, um das Mittel an etwas Höherem zu erproben, es kommt etwa
in einem Lesestücke das Wort mild vor, der Lehrer findet, daß es noch nicht
Alle kennen. Es war eine Zeit, da-setzte es dann zur Ausfüllung der Lücke
eine wohlgesetzte begriffliche Erklärung, eine sogenannte Definition, womöglich
alles in ein Ganzes gezwängt, daß vorn ein Artikel steht und zehn, zwölf
Worte weiter erst das dazu gehörige Substantiv, was die Klarheit ganz beson¬
ders fordert und nebenbei schönen Stil; und das mußte auch wohl so aus¬
wendig gelernt werden und eintönig hergesagt — ja das war ja ein sichtbarer
Fortschritt des kindlichen Verstandes in die höhere Geisteswelt hinauf! eine hand¬
greifliche Bereicherung mit dem Inhalt der höheren Bildung! denn der wohl¬
geformte „Begriff" war ja nun im Gedächtnisse niedergelegt, so sicher und sichtbar
wie ein neuer Stein in einer Mineraliensammlung. Dies Verfahren ist wohl
längst abgethan — aber ob ganz? ich fürchte, es spukt noch nach; denn noch
ziemlich allgemein ist die Meinung, die die Hauptquelle jenes Verfahrens war,
daß die Bildung eigentlich etwas dem Leben Entgegengesetztes sei, ein von der
Wirklichkeit ganz abgetrenntes Gebiet, das so zu sagen in der Luft schwebt und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/185>, abgerufen am 25.08.2024.