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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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hin an Stelle der äußeren Anschauung eine innere Anschauung, wie sie die
Seele sich aus eigenen Mitteln schafft, in dem Beispiele mit der Weihestunde
aber steht genau an der Stelle der Anschauung eine Empfindung, denn diese ist
es, die hier die Sache erfaßt, wie dort das Auge, ich möchte fast sagen eine
Anschauung des Gemüths."

Wer glaubt nicht in diesen feinsinnigen Bemerkungen den Verfasser unserer
Schrift leibhaftig vor sich stehen zu sehen? Welch ein reiches inneres Leben,
welche Kenntniß des menschlichen Herzens, welch scharfe Beobachtung bekundet
sich hier so gut, wie überall wo er spricht! Man glaubt ihm ohne weiteres,
daß "dieser Grundsatz vom Inhalt der Sprache beim Unterrichte ganz und
unzerrissen herauskommen" könne, auch wo es sich handelt um ein Hindurch¬
arbeiten durch das dornige Gebiet der Orthographie, der Interpunktion, der
Grammatik, Syntax und "wie diese gelehrten Mächte alle heißen, die recht eigent¬
lich die Herrinnen der Schule sind" und sich da so wichtig gebärden.

Eine verhängnißvolle Anwendung übrigens hat dieser an sich heilbringende
Grundsatz durch den pedantischen Uebereifer gewisser Pädagogen erfahren. Indem
diese nämlich das, wenn mit Maß und Geschmack betrieben, vernünftige Verfahren,
die nöthigen grammatischen Lehren an die Lesestücke anzuschließen, noch weiter
ausgedehnt haben, sind sie darauf verfallen, zwar nicht die schönsten Gedichte
zu zerpflücken und zu verwässern, wie es anderwärts vielfach geschieht, wohl aber
-- Gott sei's geklagt! -- an die Lectüre der Märchen u. tgi. nach dem mi߬
brauchten Recept von der concentrischen Unterrichtsmethode alles Wissenswerthe
und Wissensnöthige aus anderen Gebieten, Heimath- und Naturkunde, wohl gar
Geometrie u. s. w. ballastähnlich anzuhängseln. Solch armselige Ausgeburten
einer diftelnden pädagogischen Verdrehtheit werden hoffentlich dein Publikum
den wahren Gewinn nicht zu verdächtigen im Stande sein, der aus dem Ver¬
lassen der systematischen Grammatik der Schule erwachsen ist. Dies Verlassen
des alten Weges war "der Aufluß eines berechtigten und richtigen Gefühls,
wesentlich wohl jenes Gefühls der Leere, und wo die neue Art fehlschlägt, da
kann nur das die Schuld tragen, daß der Lehrer bei so einem Lesestücke nicht
thut, was als das Erste nöthig scheint, daß er den ganzen lebendigen Inhalt
des Stückes aus seiner Seele in die Seele des Kindes hineinarbeite -- aber
arbeiten ist gar nicht der rechte Ausdruck, weit eher spielen (in dem Sinne
wie es Schiller ästhetisch brauchte), denn die jungen Seelen sind, sobald sie erst
auf den Bänken wartend dasitzen, innigst bereit, den Inhalt auf einen bloßen
frischen Wink in sich aufleben zu lassen und dem Lehrer halben Wegs entgegen¬
zukommen; sie siud jeden Augenblick, selbst nach einer sehr lebhaften Zwischen¬
stunde, bereit, über dem Inhalt einer Fabel oder Erzählung ihre Schulbänke
zu vergessen und im Geiste in den Wald zu gehen oder vollends in einen


hin an Stelle der äußeren Anschauung eine innere Anschauung, wie sie die
Seele sich aus eigenen Mitteln schafft, in dem Beispiele mit der Weihestunde
aber steht genau an der Stelle der Anschauung eine Empfindung, denn diese ist
es, die hier die Sache erfaßt, wie dort das Auge, ich möchte fast sagen eine
Anschauung des Gemüths."

Wer glaubt nicht in diesen feinsinnigen Bemerkungen den Verfasser unserer
Schrift leibhaftig vor sich stehen zu sehen? Welch ein reiches inneres Leben,
welche Kenntniß des menschlichen Herzens, welch scharfe Beobachtung bekundet
sich hier so gut, wie überall wo er spricht! Man glaubt ihm ohne weiteres,
daß „dieser Grundsatz vom Inhalt der Sprache beim Unterrichte ganz und
unzerrissen herauskommen" könne, auch wo es sich handelt um ein Hindurch¬
arbeiten durch das dornige Gebiet der Orthographie, der Interpunktion, der
Grammatik, Syntax und „wie diese gelehrten Mächte alle heißen, die recht eigent¬
lich die Herrinnen der Schule sind" und sich da so wichtig gebärden.

Eine verhängnißvolle Anwendung übrigens hat dieser an sich heilbringende
Grundsatz durch den pedantischen Uebereifer gewisser Pädagogen erfahren. Indem
diese nämlich das, wenn mit Maß und Geschmack betrieben, vernünftige Verfahren,
die nöthigen grammatischen Lehren an die Lesestücke anzuschließen, noch weiter
ausgedehnt haben, sind sie darauf verfallen, zwar nicht die schönsten Gedichte
zu zerpflücken und zu verwässern, wie es anderwärts vielfach geschieht, wohl aber
— Gott sei's geklagt! — an die Lectüre der Märchen u. tgi. nach dem mi߬
brauchten Recept von der concentrischen Unterrichtsmethode alles Wissenswerthe
und Wissensnöthige aus anderen Gebieten, Heimath- und Naturkunde, wohl gar
Geometrie u. s. w. ballastähnlich anzuhängseln. Solch armselige Ausgeburten
einer diftelnden pädagogischen Verdrehtheit werden hoffentlich dein Publikum
den wahren Gewinn nicht zu verdächtigen im Stande sein, der aus dem Ver¬
lassen der systematischen Grammatik der Schule erwachsen ist. Dies Verlassen
des alten Weges war „der Aufluß eines berechtigten und richtigen Gefühls,
wesentlich wohl jenes Gefühls der Leere, und wo die neue Art fehlschlägt, da
kann nur das die Schuld tragen, daß der Lehrer bei so einem Lesestücke nicht
thut, was als das Erste nöthig scheint, daß er den ganzen lebendigen Inhalt
des Stückes aus seiner Seele in die Seele des Kindes hineinarbeite — aber
arbeiten ist gar nicht der rechte Ausdruck, weit eher spielen (in dem Sinne
wie es Schiller ästhetisch brauchte), denn die jungen Seelen sind, sobald sie erst
auf den Bänken wartend dasitzen, innigst bereit, den Inhalt auf einen bloßen
frischen Wink in sich aufleben zu lassen und dem Lehrer halben Wegs entgegen¬
zukommen; sie siud jeden Augenblick, selbst nach einer sehr lebhaften Zwischen¬
stunde, bereit, über dem Inhalt einer Fabel oder Erzählung ihre Schulbänke
zu vergessen und im Geiste in den Wald zu gehen oder vollends in einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/183>, abgerufen am 23.07.2024.