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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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sinnlich oder innerlich, bekannt, und in demselben Augenblicke, wo dieser im
Interesse des kleinen oder des großen Menschen Fuß faßt, haftet auch das ge¬
hörte Wort dafür im Ohre und im Gedächtniß, während es vorher vielleicht
schon oft an uns ungefaßt vorüber gegangen ist; man glaubte wohl oft das
Wort schon ganz gut zu kennen, aber es war vor dem Augenblicke eine leere,
farblose Hülle, ein Nichts, während es uns nun Gesicht und Farbe gewonnen
hat, der Träger eines kleinen Besitzes von einem gewissen Werthe, woran auch
bloß beiläufig zu denken uns wohlthuend ist .... Das Wort Weihestunde
wird mancher wohl zuerst in der Schule gehört haben, etwa in einer Religions¬
stunde, in einer Schulrede; verstanden hat er's sicher nur dann gleich beim
ersten Male, wenn zugleich wirklich aus dem Gefühl des Lehrers herüber das
Gefühl einer Weihestunde auch durch seine Seele zog. Wer aber nur das Wort
lernt ohne seinen Inhalt, der spottet später darüber oder rümpft dabei die Nase,
er versteht es eben nicht. -- Die meisten Großstädter haben wohl das Wort
Karst zuerst in der Schule gehört, in Bürgers Gedichte:


Mit Hacke, Karst und Spaten ward
Der Weinberg um und um gescharrt!

es bleibt dem Knaben eine leere Marke ohne Prägung im Kopfe, der ungefähre
"Begriff" eines Grabwerkzeuges, d. h. ein schattenhaftes Ding (wie sie in bla-
sirten und abstract erzogenen Köpfen so zahlreich sind, auch von wichtigern
Dingen), wenn ihn nicht dabei der Lehrer an die zweizinkige Hacke erinnert,
die er als Kartoffelhacke wohl einmal bei einem Spaziergange gesehen hat.
Hat er sie aber gesehen, oder schildert sie der Lehrer anschaulich genug, so ge¬
winnt ihm das Wort wie die Sache eins am andern einen gewissen Werth, der
Augenblick wo Wort und Sache sich in seinem Kopfe vermählen, ist ein eigen¬
thümlich wohlthuender, in dem er selbst etwas von der Frische schöpferischen
Denkens schmeckt (ach ja! ruft er im Stillen, oder besser halb laut, den Kopf
munter hebend), und so unbedeutend die Sache ist, er erinnert sich des Augen¬
blicks leicht nach langen Jahren noch mit einem Nachklänge jener Frische. Jeder
wird sich ähnlicher Augenblicke aus seiner Schulzeit her zu erinnern haben, oft
als Lichtblicke in einer sonst wüsten Erinnerungsmasse. Und nur zehn solcher
Augenblicke in einer Stunde, wo bleiben da Leere und Langeweile! Und -- kein
Lehrer --- in keinem Fache -- hat solche Augenblicke so wohlfeil, und zwar in
größter Mannigfaltigkeit, an kleinen und großen Dingen, als der Lehrer des
Deutschen." Dies Verfahren, das man in der Volksschule ja schon längst ange¬
wandt hat, gälte es "auf den höheren Stufen fortzuführen, nur mit der Aende¬
rung, Ausweitung, Erhöhung, Vertiefung, Verinnerlichung, die dort die anders¬
artigen höheren Lehrstoffe verlangen. So steht in dem Falle von Karst vor-


sinnlich oder innerlich, bekannt, und in demselben Augenblicke, wo dieser im
Interesse des kleinen oder des großen Menschen Fuß faßt, haftet auch das ge¬
hörte Wort dafür im Ohre und im Gedächtniß, während es vorher vielleicht
schon oft an uns ungefaßt vorüber gegangen ist; man glaubte wohl oft das
Wort schon ganz gut zu kennen, aber es war vor dem Augenblicke eine leere,
farblose Hülle, ein Nichts, während es uns nun Gesicht und Farbe gewonnen
hat, der Träger eines kleinen Besitzes von einem gewissen Werthe, woran auch
bloß beiläufig zu denken uns wohlthuend ist .... Das Wort Weihestunde
wird mancher wohl zuerst in der Schule gehört haben, etwa in einer Religions¬
stunde, in einer Schulrede; verstanden hat er's sicher nur dann gleich beim
ersten Male, wenn zugleich wirklich aus dem Gefühl des Lehrers herüber das
Gefühl einer Weihestunde auch durch seine Seele zog. Wer aber nur das Wort
lernt ohne seinen Inhalt, der spottet später darüber oder rümpft dabei die Nase,
er versteht es eben nicht. — Die meisten Großstädter haben wohl das Wort
Karst zuerst in der Schule gehört, in Bürgers Gedichte:


Mit Hacke, Karst und Spaten ward
Der Weinberg um und um gescharrt!

es bleibt dem Knaben eine leere Marke ohne Prägung im Kopfe, der ungefähre
„Begriff" eines Grabwerkzeuges, d. h. ein schattenhaftes Ding (wie sie in bla-
sirten und abstract erzogenen Köpfen so zahlreich sind, auch von wichtigern
Dingen), wenn ihn nicht dabei der Lehrer an die zweizinkige Hacke erinnert,
die er als Kartoffelhacke wohl einmal bei einem Spaziergange gesehen hat.
Hat er sie aber gesehen, oder schildert sie der Lehrer anschaulich genug, so ge¬
winnt ihm das Wort wie die Sache eins am andern einen gewissen Werth, der
Augenblick wo Wort und Sache sich in seinem Kopfe vermählen, ist ein eigen¬
thümlich wohlthuender, in dem er selbst etwas von der Frische schöpferischen
Denkens schmeckt (ach ja! ruft er im Stillen, oder besser halb laut, den Kopf
munter hebend), und so unbedeutend die Sache ist, er erinnert sich des Augen¬
blicks leicht nach langen Jahren noch mit einem Nachklänge jener Frische. Jeder
wird sich ähnlicher Augenblicke aus seiner Schulzeit her zu erinnern haben, oft
als Lichtblicke in einer sonst wüsten Erinnerungsmasse. Und nur zehn solcher
Augenblicke in einer Stunde, wo bleiben da Leere und Langeweile! Und — kein
Lehrer -— in keinem Fache — hat solche Augenblicke so wohlfeil, und zwar in
größter Mannigfaltigkeit, an kleinen und großen Dingen, als der Lehrer des
Deutschen." Dies Verfahren, das man in der Volksschule ja schon längst ange¬
wandt hat, gälte es „auf den höheren Stufen fortzuführen, nur mit der Aende¬
rung, Ausweitung, Erhöhung, Vertiefung, Verinnerlichung, die dort die anders¬
artigen höheren Lehrstoffe verlangen. So steht in dem Falle von Karst vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/182>, abgerufen am 25.08.2024.