Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.ohne Ueberschätzung zu reden und die Genießenden zu veranlassen, bei der Ge¬ Seit etwa fünf Jahren sind nach einander mehrere novellistische Schöpfungen Der Leser wird schon aus dem Gesagten schließen, daß wir in C. F. Meyer ohne Ueberschätzung zu reden und die Genießenden zu veranlassen, bei der Ge¬ Seit etwa fünf Jahren sind nach einander mehrere novellistische Schöpfungen Der Leser wird schon aus dem Gesagten schließen, daß wir in C. F. Meyer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147237"/> <p xml:id="ID_395" prev="#ID_394"> ohne Ueberschätzung zu reden und die Genießenden zu veranlassen, bei der Ge¬<lb/> winnung eines Urtheils wieder ein wenig selbst mitzuwirken.</p><lb/> <p xml:id="ID_396"> Seit etwa fünf Jahren sind nach einander mehrere novellistische Schöpfungen<lb/> eines Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer herausgekommen, die in<lb/> ihrer Weise ernste Beachtung verdienen, auch einen gewissen Beifall unläugbar<lb/> gefunden haben. Der Name des Schriftstellers war, als der historische Roman<lb/> „Georg Jenatsch" erschien, völlig neu. Gleichwohl hatte man Ursache die Er¬<lb/> zählungen dieses neuen Autors keineswegs für Erstlingsproduete eines begabten<lb/> jungen Poeten zu halten. Ist der Verfasser des „Amulet" und des „Georg<lb/> Jenatsch" identisch mit jenem Conrad Meyer, den H. Kurz' „Deutsche Literatur¬<lb/> geschichte" (4. Theil, S. 70) als einen Zürcher Lyriker nennt, der auch mit<lb/> einem romantischen Heldenliede „Die Jungfrau von Orleans" hervorgetreten, so<lb/> steht unser Autor bereits im höheren Lebensalter (geboren 1824) und ist<lb/> entweder eine jener Naturen, welche verhältnißmäßig spät zu ihrer Eigen¬<lb/> thümlichkeit, ihrer Reife und einer gewissen Meisterschaft gelangen, oder ein Theil<lb/> seiner interessanten Productionen ist schon früher entstanden und (wie gleichfalls<lb/> üblich) so lange ungelesen und unbeachtet zurückgewiesen und zurückgeschickt<lb/> worden, bis ein günstiger Zufall die entscheidende Wendung brachte. Wäre es<lb/> anders und der Autor in der That noch ein junger Mann, so läge der Fall<lb/> vor, daß eine bestimmte, keineswegs uninteressante, allein, wie uns scheint, nicht<lb/> allzuentwicklungsfähige Manier sich bei einem phantasiereichen, wahrhaft be¬<lb/> gabten Erzähler allzufrüh entwickelt hätte.</p><lb/> <p xml:id="ID_397"> Der Leser wird schon aus dem Gesagten schließen, daß wir in C. F. Meyer<lb/> mit keinem Dutzendschriftsteller zu thun haben, daß seine Erzählungen über<lb/> das landläufige Maß hinausgehen und daß der Beifall, den sie gefunden, dies¬<lb/> mal von gutem Sinn des betreffenden Publikums zeugt. Wir leben in so<lb/> wunderlichen Zuständen, daß man einem nen austretenden Schriftsteller Compli-<lb/> mente machen darf, ja muß, die in besseren Tagen beinahe als Beleidigungen<lb/> betrachtet worden wären, zum Exempel die Versicherung, daß ein Poet es ernst<lb/> nehme mit seiner Kunst, daß sein Bemühen dahin gehe, seine Erfindungen dem<lb/> Verständniß und der Mitempfindung des Lesers so nahe als möglich zu bringen,<lb/> daß er sich bestrebt zeige, ein reiyes Deutsch in klaren Formen zu schreibe».<lb/> Das sind Voraussetzungen oder sie sollten es wenigstens sein; der Werth eines<lb/> Erzählers liegt über dieselben hinaus in der Eigenthümlichkeit seiner Erfindung<lb/> und Menschendarstellung, in der lebendigen Nachwirkung seiner Schöpfungen.<lb/> Mit gewissen Einschränkungen wird jeder Leser empfinden, daß die Dichtungen<lb/> unseres Poeten auch unter dem angedeuteten Gesichtspunkte sich bewähren und<lb/> daß es allerdings der Mühe lohnt, sich Rechenschaft über Vorzüge und Mängel<lb/> derselben zu geben.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0150]
ohne Ueberschätzung zu reden und die Genießenden zu veranlassen, bei der Ge¬
winnung eines Urtheils wieder ein wenig selbst mitzuwirken.
Seit etwa fünf Jahren sind nach einander mehrere novellistische Schöpfungen
eines Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer herausgekommen, die in
ihrer Weise ernste Beachtung verdienen, auch einen gewissen Beifall unläugbar
gefunden haben. Der Name des Schriftstellers war, als der historische Roman
„Georg Jenatsch" erschien, völlig neu. Gleichwohl hatte man Ursache die Er¬
zählungen dieses neuen Autors keineswegs für Erstlingsproduete eines begabten
jungen Poeten zu halten. Ist der Verfasser des „Amulet" und des „Georg
Jenatsch" identisch mit jenem Conrad Meyer, den H. Kurz' „Deutsche Literatur¬
geschichte" (4. Theil, S. 70) als einen Zürcher Lyriker nennt, der auch mit
einem romantischen Heldenliede „Die Jungfrau von Orleans" hervorgetreten, so
steht unser Autor bereits im höheren Lebensalter (geboren 1824) und ist
entweder eine jener Naturen, welche verhältnißmäßig spät zu ihrer Eigen¬
thümlichkeit, ihrer Reife und einer gewissen Meisterschaft gelangen, oder ein Theil
seiner interessanten Productionen ist schon früher entstanden und (wie gleichfalls
üblich) so lange ungelesen und unbeachtet zurückgewiesen und zurückgeschickt
worden, bis ein günstiger Zufall die entscheidende Wendung brachte. Wäre es
anders und der Autor in der That noch ein junger Mann, so läge der Fall
vor, daß eine bestimmte, keineswegs uninteressante, allein, wie uns scheint, nicht
allzuentwicklungsfähige Manier sich bei einem phantasiereichen, wahrhaft be¬
gabten Erzähler allzufrüh entwickelt hätte.
Der Leser wird schon aus dem Gesagten schließen, daß wir in C. F. Meyer
mit keinem Dutzendschriftsteller zu thun haben, daß seine Erzählungen über
das landläufige Maß hinausgehen und daß der Beifall, den sie gefunden, dies¬
mal von gutem Sinn des betreffenden Publikums zeugt. Wir leben in so
wunderlichen Zuständen, daß man einem nen austretenden Schriftsteller Compli-
mente machen darf, ja muß, die in besseren Tagen beinahe als Beleidigungen
betrachtet worden wären, zum Exempel die Versicherung, daß ein Poet es ernst
nehme mit seiner Kunst, daß sein Bemühen dahin gehe, seine Erfindungen dem
Verständniß und der Mitempfindung des Lesers so nahe als möglich zu bringen,
daß er sich bestrebt zeige, ein reiyes Deutsch in klaren Formen zu schreibe».
Das sind Voraussetzungen oder sie sollten es wenigstens sein; der Werth eines
Erzählers liegt über dieselben hinaus in der Eigenthümlichkeit seiner Erfindung
und Menschendarstellung, in der lebendigen Nachwirkung seiner Schöpfungen.
Mit gewissen Einschränkungen wird jeder Leser empfinden, daß die Dichtungen
unseres Poeten auch unter dem angedeuteten Gesichtspunkte sich bewähren und
daß es allerdings der Mühe lohnt, sich Rechenschaft über Vorzüge und Mängel
derselben zu geben.
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