Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

werfung scheint es wirklich keinen Mittelton mehr zu geben. Neuauftauchende
Talente werden entweder mit schmetternden Fanfaren begrüßt oder mit eisigem
Stillschweigen empfangen, beides ohne große Rücksicht auf Werth und Unwerth
des von ihnen Dargebotenen, lediglich nach Maßgabe der ihnen zu Gebote
stehenden Verbindungen oder reiner Willkür der tonangebenden Reelameblätter.
Schöpfungen, die es verdient hätten in ernster Weise geprüft, in ihre" Vorzügen
anerkannt, in ihren etwaigen Mängeln klar und bestimmt beurtheilt zu werden,
sehen wir entweder sinnlos mit allen Qualitäten geschmückt, die sie haben und
nicht haben, dem Publikum mit Versicherungen und Verheißungen aufgedrängt,
welche auch durch das Beste nicht erfüllt werden können, oder umgekehrt mit
Phrasen abgefertigt und erledigt, die so unsachlich, läppisch und armselig sind,
daß man erstaunen muß, was alles das große Volk der Denker sich jahraus,
jahrein nicht nur vorreden läßt, sondern auch glaubt, wenigstens soweit glaubt,
um seine Lectüre davon abhängig zu machen. Wollten wir selbst annehmen,
daß dieser Mangel einer sachlichen, die Entwicklung wirklich und mit innerem
Antheil begleitenden Kritik gar keine Rückwirkung auf die literarisch - künstlerische
Production habe -- eine überaus kühne Annahme! --, so muß er doch in ver-
hüngnißvoller Weise zur wachsenden Geschmacksverwilderung und zum Sinken
des Unterscheidungsvermögens beitragen. Und er hat unbestreitbar auch sonst
bedenkliche Wirkungen. Das Publikum gewöhnt sich, ruhige und gerechte Prü¬
fung mit Mißfallen anzuschauen, die Kritik aber, wenn sie endlich einmal
eintritt, wird gewissermaßen angereizt, sich stark, heftig und herb zu äußern, weil
ja nicht bloß ein Eindruck wiederzuspiegeln, ein Urtheil abzugeben ist, sondern weil
es vorausgegangene Mißurtheile und sinnlose Lobpreisungen zu berichtigen gilt.

Auch das ist für die gegenwärtig herrschenden Zustände charakteristisch, daß
von Zeit zu Zeit Namen als völlig neu auftauchen und mit großer Emphase
verkündet werden, die gar nicht neu sind und von rechtswegen schon lange guten
Klang haben müßten. Im vorigen Jahre entdeckten gewisse Feuilletonisten in
Ludwig Steub ein schätzbares Talent; vor zwei Jahren lasen wir in einer großen
Zeitung mit besonderer Ueberraschung, daß ein seither gänzlich unbekannter Schrift¬
steller Karl Heigel ein bürgerliches Drama geschrieben. Dafür sind dann Dutzend-
Journalisten, die gestern mit ein paar schnoddrigen Sonntagsplaudereien und
einem "pikanten" Coulissenklatsch aufgetreten sind, ohne weiteres Berühmtheiten,
und es wird in einem Tone von ihnen gesprochen, der diejenigen, welche sich
noch erlauben, nach wirklichen Leistungen, thatsächlichen Talentproben und einem
gewissen Ernst des Strebens zu fragen, bevor sie Jemand für eiuen Schrift¬
steller halten, nach Gebühr einschüchtern soll. Unter Mitwirkung aller dieser
Umstände ist es beständig mißlicher und schwieriger geworden, von den besseren
poetischen Bestrebungen der Gegenwart ruhig und mit warmer Theilnahme, aber


werfung scheint es wirklich keinen Mittelton mehr zu geben. Neuauftauchende
Talente werden entweder mit schmetternden Fanfaren begrüßt oder mit eisigem
Stillschweigen empfangen, beides ohne große Rücksicht auf Werth und Unwerth
des von ihnen Dargebotenen, lediglich nach Maßgabe der ihnen zu Gebote
stehenden Verbindungen oder reiner Willkür der tonangebenden Reelameblätter.
Schöpfungen, die es verdient hätten in ernster Weise geprüft, in ihre« Vorzügen
anerkannt, in ihren etwaigen Mängeln klar und bestimmt beurtheilt zu werden,
sehen wir entweder sinnlos mit allen Qualitäten geschmückt, die sie haben und
nicht haben, dem Publikum mit Versicherungen und Verheißungen aufgedrängt,
welche auch durch das Beste nicht erfüllt werden können, oder umgekehrt mit
Phrasen abgefertigt und erledigt, die so unsachlich, läppisch und armselig sind,
daß man erstaunen muß, was alles das große Volk der Denker sich jahraus,
jahrein nicht nur vorreden läßt, sondern auch glaubt, wenigstens soweit glaubt,
um seine Lectüre davon abhängig zu machen. Wollten wir selbst annehmen,
daß dieser Mangel einer sachlichen, die Entwicklung wirklich und mit innerem
Antheil begleitenden Kritik gar keine Rückwirkung auf die literarisch - künstlerische
Production habe — eine überaus kühne Annahme! —, so muß er doch in ver-
hüngnißvoller Weise zur wachsenden Geschmacksverwilderung und zum Sinken
des Unterscheidungsvermögens beitragen. Und er hat unbestreitbar auch sonst
bedenkliche Wirkungen. Das Publikum gewöhnt sich, ruhige und gerechte Prü¬
fung mit Mißfallen anzuschauen, die Kritik aber, wenn sie endlich einmal
eintritt, wird gewissermaßen angereizt, sich stark, heftig und herb zu äußern, weil
ja nicht bloß ein Eindruck wiederzuspiegeln, ein Urtheil abzugeben ist, sondern weil
es vorausgegangene Mißurtheile und sinnlose Lobpreisungen zu berichtigen gilt.

Auch das ist für die gegenwärtig herrschenden Zustände charakteristisch, daß
von Zeit zu Zeit Namen als völlig neu auftauchen und mit großer Emphase
verkündet werden, die gar nicht neu sind und von rechtswegen schon lange guten
Klang haben müßten. Im vorigen Jahre entdeckten gewisse Feuilletonisten in
Ludwig Steub ein schätzbares Talent; vor zwei Jahren lasen wir in einer großen
Zeitung mit besonderer Ueberraschung, daß ein seither gänzlich unbekannter Schrift¬
steller Karl Heigel ein bürgerliches Drama geschrieben. Dafür sind dann Dutzend-
Journalisten, die gestern mit ein paar schnoddrigen Sonntagsplaudereien und
einem „pikanten" Coulissenklatsch aufgetreten sind, ohne weiteres Berühmtheiten,
und es wird in einem Tone von ihnen gesprochen, der diejenigen, welche sich
noch erlauben, nach wirklichen Leistungen, thatsächlichen Talentproben und einem
gewissen Ernst des Strebens zu fragen, bevor sie Jemand für eiuen Schrift¬
steller halten, nach Gebühr einschüchtern soll. Unter Mitwirkung aller dieser
Umstände ist es beständig mißlicher und schwieriger geworden, von den besseren
poetischen Bestrebungen der Gegenwart ruhig und mit warmer Theilnahme, aber


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147236"/>
          <p xml:id="ID_393" prev="#ID_392"> werfung scheint es wirklich keinen Mittelton mehr zu geben. Neuauftauchende<lb/>
Talente werden entweder mit schmetternden Fanfaren begrüßt oder mit eisigem<lb/>
Stillschweigen empfangen, beides ohne große Rücksicht auf Werth und Unwerth<lb/>
des von ihnen Dargebotenen, lediglich nach Maßgabe der ihnen zu Gebote<lb/>
stehenden Verbindungen oder reiner Willkür der tonangebenden Reelameblätter.<lb/>
Schöpfungen, die es verdient hätten in ernster Weise geprüft, in ihre« Vorzügen<lb/>
anerkannt, in ihren etwaigen Mängeln klar und bestimmt beurtheilt zu werden,<lb/>
sehen wir entweder sinnlos mit allen Qualitäten geschmückt, die sie haben und<lb/>
nicht haben, dem Publikum mit Versicherungen und Verheißungen aufgedrängt,<lb/>
welche auch durch das Beste nicht erfüllt werden können, oder umgekehrt mit<lb/>
Phrasen abgefertigt und erledigt, die so unsachlich, läppisch und armselig sind,<lb/>
daß man erstaunen muß, was alles das große Volk der Denker sich jahraus,<lb/>
jahrein nicht nur vorreden läßt, sondern auch glaubt, wenigstens soweit glaubt,<lb/>
um seine Lectüre davon abhängig zu machen. Wollten wir selbst annehmen,<lb/>
daß dieser Mangel einer sachlichen, die Entwicklung wirklich und mit innerem<lb/>
Antheil begleitenden Kritik gar keine Rückwirkung auf die literarisch - künstlerische<lb/>
Production habe &#x2014; eine überaus kühne Annahme! &#x2014;, so muß er doch in ver-<lb/>
hüngnißvoller Weise zur wachsenden Geschmacksverwilderung und zum Sinken<lb/>
des Unterscheidungsvermögens beitragen. Und er hat unbestreitbar auch sonst<lb/>
bedenkliche Wirkungen. Das Publikum gewöhnt sich, ruhige und gerechte Prü¬<lb/>
fung mit Mißfallen anzuschauen, die Kritik aber, wenn sie endlich einmal<lb/>
eintritt, wird gewissermaßen angereizt, sich stark, heftig und herb zu äußern, weil<lb/>
ja nicht bloß ein Eindruck wiederzuspiegeln, ein Urtheil abzugeben ist, sondern weil<lb/>
es vorausgegangene Mißurtheile und sinnlose Lobpreisungen zu berichtigen gilt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_394" next="#ID_395"> Auch das ist für die gegenwärtig herrschenden Zustände charakteristisch, daß<lb/>
von Zeit zu Zeit Namen als völlig neu auftauchen und mit großer Emphase<lb/>
verkündet werden, die gar nicht neu sind und von rechtswegen schon lange guten<lb/>
Klang haben müßten. Im vorigen Jahre entdeckten gewisse Feuilletonisten in<lb/>
Ludwig Steub ein schätzbares Talent; vor zwei Jahren lasen wir in einer großen<lb/>
Zeitung mit besonderer Ueberraschung, daß ein seither gänzlich unbekannter Schrift¬<lb/>
steller Karl Heigel ein bürgerliches Drama geschrieben. Dafür sind dann Dutzend-<lb/>
Journalisten, die gestern mit ein paar schnoddrigen Sonntagsplaudereien und<lb/>
einem &#x201E;pikanten" Coulissenklatsch aufgetreten sind, ohne weiteres Berühmtheiten,<lb/>
und es wird in einem Tone von ihnen gesprochen, der diejenigen, welche sich<lb/>
noch erlauben, nach wirklichen Leistungen, thatsächlichen Talentproben und einem<lb/>
gewissen Ernst des Strebens zu fragen, bevor sie Jemand für eiuen Schrift¬<lb/>
steller halten, nach Gebühr einschüchtern soll. Unter Mitwirkung aller dieser<lb/>
Umstände ist es beständig mißlicher und schwieriger geworden, von den besseren<lb/>
poetischen Bestrebungen der Gegenwart ruhig und mit warmer Theilnahme, aber</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0149] werfung scheint es wirklich keinen Mittelton mehr zu geben. Neuauftauchende Talente werden entweder mit schmetternden Fanfaren begrüßt oder mit eisigem Stillschweigen empfangen, beides ohne große Rücksicht auf Werth und Unwerth des von ihnen Dargebotenen, lediglich nach Maßgabe der ihnen zu Gebote stehenden Verbindungen oder reiner Willkür der tonangebenden Reelameblätter. Schöpfungen, die es verdient hätten in ernster Weise geprüft, in ihre« Vorzügen anerkannt, in ihren etwaigen Mängeln klar und bestimmt beurtheilt zu werden, sehen wir entweder sinnlos mit allen Qualitäten geschmückt, die sie haben und nicht haben, dem Publikum mit Versicherungen und Verheißungen aufgedrängt, welche auch durch das Beste nicht erfüllt werden können, oder umgekehrt mit Phrasen abgefertigt und erledigt, die so unsachlich, läppisch und armselig sind, daß man erstaunen muß, was alles das große Volk der Denker sich jahraus, jahrein nicht nur vorreden läßt, sondern auch glaubt, wenigstens soweit glaubt, um seine Lectüre davon abhängig zu machen. Wollten wir selbst annehmen, daß dieser Mangel einer sachlichen, die Entwicklung wirklich und mit innerem Antheil begleitenden Kritik gar keine Rückwirkung auf die literarisch - künstlerische Production habe — eine überaus kühne Annahme! —, so muß er doch in ver- hüngnißvoller Weise zur wachsenden Geschmacksverwilderung und zum Sinken des Unterscheidungsvermögens beitragen. Und er hat unbestreitbar auch sonst bedenkliche Wirkungen. Das Publikum gewöhnt sich, ruhige und gerechte Prü¬ fung mit Mißfallen anzuschauen, die Kritik aber, wenn sie endlich einmal eintritt, wird gewissermaßen angereizt, sich stark, heftig und herb zu äußern, weil ja nicht bloß ein Eindruck wiederzuspiegeln, ein Urtheil abzugeben ist, sondern weil es vorausgegangene Mißurtheile und sinnlose Lobpreisungen zu berichtigen gilt. Auch das ist für die gegenwärtig herrschenden Zustände charakteristisch, daß von Zeit zu Zeit Namen als völlig neu auftauchen und mit großer Emphase verkündet werden, die gar nicht neu sind und von rechtswegen schon lange guten Klang haben müßten. Im vorigen Jahre entdeckten gewisse Feuilletonisten in Ludwig Steub ein schätzbares Talent; vor zwei Jahren lasen wir in einer großen Zeitung mit besonderer Ueberraschung, daß ein seither gänzlich unbekannter Schrift¬ steller Karl Heigel ein bürgerliches Drama geschrieben. Dafür sind dann Dutzend- Journalisten, die gestern mit ein paar schnoddrigen Sonntagsplaudereien und einem „pikanten" Coulissenklatsch aufgetreten sind, ohne weiteres Berühmtheiten, und es wird in einem Tone von ihnen gesprochen, der diejenigen, welche sich noch erlauben, nach wirklichen Leistungen, thatsächlichen Talentproben und einem gewissen Ernst des Strebens zu fragen, bevor sie Jemand für eiuen Schrift¬ steller halten, nach Gebühr einschüchtern soll. Unter Mitwirkung aller dieser Umstände ist es beständig mißlicher und schwieriger geworden, von den besseren poetischen Bestrebungen der Gegenwart ruhig und mit warmer Theilnahme, aber

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/149
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/149>, abgerufen am 25.08.2024.