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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Gebote als den Chinesen. Aber mit Recht wird geltend gemacht, daß letztere
diesem Vorzuge in einer praktisch unerschöpflichen Bevölkerung ganz in der Nähe
des Kriegsschauplatzes ein sehr beachtenswerthes Element entgenzustellen im
Stande sind, während das russische Centralasien schwach bevölkert und theil¬
weise erst kürzlich dem Scepter des Zaren unterworfen, also in seiner Bevölke¬
rung unzuverlässig ist, und Verstärkungen aus dem europäischen Rußland einen
weiten Weg zurückzulegen haben. Beobachter aus Westeuropa blickten mit Grauen
auf die Rücksichtslosigkeit, mit welcher Rußland in Bulgarien das Blut und
Leben seiner Soldaten verschwendete. Aber China kann auf einen Russen fünf
oder sechs seiner Krieger opfern und doch das Spiel gelassen fortsetzen. Es ist
ferner zu bemerken, daß China zwar in militärischen Dingen hinter den euro¬
päischen Mächten zurücksteht, aber doch nicht unerhebliche Fortschritte gemacht
hat. "Die Wiedereroberung Ostturkestaus durch die Chinesen," sagt ein engli¬
scher Fachmann, "ist ohne Zweifel das merkwürdigste Ereigniß, welches sich in
den letzten fünfzig Jahren in Asien begeben hat, und die glänzendste Leistung
einer vou Chinesen geführten Armee, die seit der Zeit zu verzeichnen war, wo
Kien Lang das Land (vor etwa 120 Jahren) unterwarf. Die Chinesen er¬
oberten Kaschgar mit europäischen Waffen und durch sorgfältige Anwendung
dessen, was ihnen das Studium westlicher Strategie gelehrt hatte. Ihre Sol¬
daten marschirten und fochten gehorsam ihren nach preußischen Grundsätzen ge¬
übten Jnstructoren, und ihre Generale manövrirten mit ihren Truppen im Ein¬
klang mit den Lehren Moltkes. Selbst mit Nebensachen wie Teleskopen und
Feldstechern finden wir dieses chinesische Heer wohl versehen." Diese Streit¬
macht aber ist es gerade, mit welcher die Russen zu thun haben werden, und
Skobeleff, der sie commandiren soll, ist wohl ein kühner Draufgänger, hat aber
bis jetzt noch nicht bewiesen, daß er auch hervorragende Feldherrntalente besitzt.

Wie wird sich nun England, der Rival Rußlands in Ostasien, zu diesem
Kriege stellen, der sicher von einer Blockade der chinesischen Häfen begleitet sein
wird? Wir lassen englische Blätter auf diese Frage antworten. Das bereits
mehrmals erwähnte in Schanghai erscheinende Journal sührt in seiner Bespre¬
chung des Themas eine sehr kräftige Sprache. "Es ist von geringer oder gar
keiner Bedeutung," sagt es, "welche Partei in England gerade an der Gewalt
ist. Man lasse es nur Ernst mit der Sache werden, Peking auf dem Punkte
stehen, in die Hände der Russen zu fallen, wie es vor zwanzig Jahren in die
der Briten und Franzosen fiel, und keine englische Negierung könnte dem mit
deu Händen im Schoße zusehen. Obwohl ein siegreicher Feldzug in China
Rußland nicht eine Meile näher an Indien bringen würde, als es jetzt ist, so
würde doch die Wirkung, die er auf unser indisches Reich ausüben müßte, so
verhängnißvoll sein, als ob es sich Afghanistans bemächtigt Hütte. Die neben-


Gebote als den Chinesen. Aber mit Recht wird geltend gemacht, daß letztere
diesem Vorzuge in einer praktisch unerschöpflichen Bevölkerung ganz in der Nähe
des Kriegsschauplatzes ein sehr beachtenswerthes Element entgenzustellen im
Stande sind, während das russische Centralasien schwach bevölkert und theil¬
weise erst kürzlich dem Scepter des Zaren unterworfen, also in seiner Bevölke¬
rung unzuverlässig ist, und Verstärkungen aus dem europäischen Rußland einen
weiten Weg zurückzulegen haben. Beobachter aus Westeuropa blickten mit Grauen
auf die Rücksichtslosigkeit, mit welcher Rußland in Bulgarien das Blut und
Leben seiner Soldaten verschwendete. Aber China kann auf einen Russen fünf
oder sechs seiner Krieger opfern und doch das Spiel gelassen fortsetzen. Es ist
ferner zu bemerken, daß China zwar in militärischen Dingen hinter den euro¬
päischen Mächten zurücksteht, aber doch nicht unerhebliche Fortschritte gemacht
hat. „Die Wiedereroberung Ostturkestaus durch die Chinesen," sagt ein engli¬
scher Fachmann, „ist ohne Zweifel das merkwürdigste Ereigniß, welches sich in
den letzten fünfzig Jahren in Asien begeben hat, und die glänzendste Leistung
einer vou Chinesen geführten Armee, die seit der Zeit zu verzeichnen war, wo
Kien Lang das Land (vor etwa 120 Jahren) unterwarf. Die Chinesen er¬
oberten Kaschgar mit europäischen Waffen und durch sorgfältige Anwendung
dessen, was ihnen das Studium westlicher Strategie gelehrt hatte. Ihre Sol¬
daten marschirten und fochten gehorsam ihren nach preußischen Grundsätzen ge¬
übten Jnstructoren, und ihre Generale manövrirten mit ihren Truppen im Ein¬
klang mit den Lehren Moltkes. Selbst mit Nebensachen wie Teleskopen und
Feldstechern finden wir dieses chinesische Heer wohl versehen." Diese Streit¬
macht aber ist es gerade, mit welcher die Russen zu thun haben werden, und
Skobeleff, der sie commandiren soll, ist wohl ein kühner Draufgänger, hat aber
bis jetzt noch nicht bewiesen, daß er auch hervorragende Feldherrntalente besitzt.

Wie wird sich nun England, der Rival Rußlands in Ostasien, zu diesem
Kriege stellen, der sicher von einer Blockade der chinesischen Häfen begleitet sein
wird? Wir lassen englische Blätter auf diese Frage antworten. Das bereits
mehrmals erwähnte in Schanghai erscheinende Journal sührt in seiner Bespre¬
chung des Themas eine sehr kräftige Sprache. „Es ist von geringer oder gar
keiner Bedeutung," sagt es, „welche Partei in England gerade an der Gewalt
ist. Man lasse es nur Ernst mit der Sache werden, Peking auf dem Punkte
stehen, in die Hände der Russen zu fallen, wie es vor zwanzig Jahren in die
der Briten und Franzosen fiel, und keine englische Negierung könnte dem mit
deu Händen im Schoße zusehen. Obwohl ein siegreicher Feldzug in China
Rußland nicht eine Meile näher an Indien bringen würde, als es jetzt ist, so
würde doch die Wirkung, die er auf unser indisches Reich ausüben müßte, so
verhängnißvoll sein, als ob es sich Afghanistans bemächtigt Hütte. Die neben-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/144>, abgerufen am 23.07.2024.