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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Daß Goethe schon seit dem Jahre 1822 eine neue Ausgabe seiner Werke
ins Auge gefaßt hatte, ist allgemein bekannt; weniger bekannt dagegen, daß er
schon frühzeitig sich nach geeigneten Gehilfen dafür umgesehen, denn wohl mußte
er erkennen, daß Eckermann und Riemer nicht in allen Stücken die geeignetesten
Mitarbeiter sein würden. Der Erstere - wir dürfen es wohl jetzt unumwunden
aussprechen -- eine durchaus subalterne Natur; von Geist auch nicht die kleinste
Spur, ein Autodidakt ohne jede kritisch-logische Schulung; Fanny Hensel nennt
ihn einmal "einen äußerst bornirten, durch Goethe völlig absorbirten Menschen";
Riemer eitel, rechthaberisch, und was schlimmer ist, in literarischer Arbeit gänz¬
lich gewissenlos. Noch bis auf den heutigen Tag ist bei manchem Goethischen
Product, das in den nachgelassenen Werken erschien, nicht sicher ausgemacht, was
Riemers Schlimmbesserungen auf Rechnung zu setzen ist. Dem Verfasser dieser
Zeilen ist es immer ein Räthsel gewesen, wie Goethe diesen beiden Männern
sein lange Jahre dauerndes Vertrauen so ausschließlich schenken konnte. Die
Ausgabe seiner Werke hätte kaum in ungeeignetere Hände fallen können. Jetzt,
wo die Briefe Goethes an Göttling vorliegen, sehen wir deutlich, wie es dem
alten Olympier in vollem Ernst darum zu thun war, nicht bloß den "aufmerk¬
samsten Revisor" sich zu gewinnen, sondern anch einen Mann, der in der Kritik,
welche an den unerreichten Mustern aller Schriftsteller, an den Griechen und
Römern gelernt wird, wohl geschult war, der aber nicht darin aufging, sondern
sich mit der Geistesfreiheit zu der herrlichsten Aufgabe des Philologen erhoben
hatte, das Alterthum lebendig zu machen für Mit- und Nachwelt. Auch die
Aufnahme der naturwissenschaftlichen Schriften in die Gesammtausgabe letzter
Hand hatte Goethe frühzeitig ins Auge gefaßt. In einem bisher ungedruckten
Briefe vom 13. Juni 1822 an Leopold von Henning spricht er sich darüber
in folgenden Worten aus: "Ich bereite eine neue Ausgabe meiner sämmtlichen
Werke, Schriften und literarischen Nachlasses vor. Dieses selbst aber allein
leisten zu wollen wäre Verwegenheit. Für den ästhetischen und artistischen Theil
interessiren sich ältere Freunde, wollten Sie den chromatischen und vielleicht den
ganzen physischen übernehmen, so übersendete meine sämmtlichen Papiere und
wir könnten noch so lang wir auf einer Erde zusammen sind uns darüber voll¬
kommen verständigen. Dies würde gegen Michael geschehen können, da Sie
denn nach abgehaltenen Vorlesungen sich schon des ganzen Feldes Meister ge¬
macht hätten. Alsdann würde Ihr Geschäft seyn den dritten Theil der Farben¬
lehre zu redigiren und mit eigenen Erfahrungen, Einsichten und Ueberzeugungen
ans Ganze anzuschließen und dadurch Ihren Beruf zu solchem Geschäft voll¬
kommen zu legitimiren."

Es ist wohl kein Zweifel, daß der tief empfundene Brief, mit dem Göttling
feine Goethe gewidmete Ausgabe der "Politik" des Aristoteles begleitete, aus-


Daß Goethe schon seit dem Jahre 1822 eine neue Ausgabe seiner Werke
ins Auge gefaßt hatte, ist allgemein bekannt; weniger bekannt dagegen, daß er
schon frühzeitig sich nach geeigneten Gehilfen dafür umgesehen, denn wohl mußte
er erkennen, daß Eckermann und Riemer nicht in allen Stücken die geeignetesten
Mitarbeiter sein würden. Der Erstere - wir dürfen es wohl jetzt unumwunden
aussprechen — eine durchaus subalterne Natur; von Geist auch nicht die kleinste
Spur, ein Autodidakt ohne jede kritisch-logische Schulung; Fanny Hensel nennt
ihn einmal „einen äußerst bornirten, durch Goethe völlig absorbirten Menschen";
Riemer eitel, rechthaberisch, und was schlimmer ist, in literarischer Arbeit gänz¬
lich gewissenlos. Noch bis auf den heutigen Tag ist bei manchem Goethischen
Product, das in den nachgelassenen Werken erschien, nicht sicher ausgemacht, was
Riemers Schlimmbesserungen auf Rechnung zu setzen ist. Dem Verfasser dieser
Zeilen ist es immer ein Räthsel gewesen, wie Goethe diesen beiden Männern
sein lange Jahre dauerndes Vertrauen so ausschließlich schenken konnte. Die
Ausgabe seiner Werke hätte kaum in ungeeignetere Hände fallen können. Jetzt,
wo die Briefe Goethes an Göttling vorliegen, sehen wir deutlich, wie es dem
alten Olympier in vollem Ernst darum zu thun war, nicht bloß den „aufmerk¬
samsten Revisor" sich zu gewinnen, sondern anch einen Mann, der in der Kritik,
welche an den unerreichten Mustern aller Schriftsteller, an den Griechen und
Römern gelernt wird, wohl geschult war, der aber nicht darin aufging, sondern
sich mit der Geistesfreiheit zu der herrlichsten Aufgabe des Philologen erhoben
hatte, das Alterthum lebendig zu machen für Mit- und Nachwelt. Auch die
Aufnahme der naturwissenschaftlichen Schriften in die Gesammtausgabe letzter
Hand hatte Goethe frühzeitig ins Auge gefaßt. In einem bisher ungedruckten
Briefe vom 13. Juni 1822 an Leopold von Henning spricht er sich darüber
in folgenden Worten aus: „Ich bereite eine neue Ausgabe meiner sämmtlichen
Werke, Schriften und literarischen Nachlasses vor. Dieses selbst aber allein
leisten zu wollen wäre Verwegenheit. Für den ästhetischen und artistischen Theil
interessiren sich ältere Freunde, wollten Sie den chromatischen und vielleicht den
ganzen physischen übernehmen, so übersendete meine sämmtlichen Papiere und
wir könnten noch so lang wir auf einer Erde zusammen sind uns darüber voll¬
kommen verständigen. Dies würde gegen Michael geschehen können, da Sie
denn nach abgehaltenen Vorlesungen sich schon des ganzen Feldes Meister ge¬
macht hätten. Alsdann würde Ihr Geschäft seyn den dritten Theil der Farben¬
lehre zu redigiren und mit eigenen Erfahrungen, Einsichten und Ueberzeugungen
ans Ganze anzuschließen und dadurch Ihren Beruf zu solchem Geschäft voll¬
kommen zu legitimiren."

Es ist wohl kein Zweifel, daß der tief empfundene Brief, mit dem Göttling
feine Goethe gewidmete Ausgabe der „Politik" des Aristoteles begleitete, aus-


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[0122] Daß Goethe schon seit dem Jahre 1822 eine neue Ausgabe seiner Werke ins Auge gefaßt hatte, ist allgemein bekannt; weniger bekannt dagegen, daß er schon frühzeitig sich nach geeigneten Gehilfen dafür umgesehen, denn wohl mußte er erkennen, daß Eckermann und Riemer nicht in allen Stücken die geeignetesten Mitarbeiter sein würden. Der Erstere - wir dürfen es wohl jetzt unumwunden aussprechen — eine durchaus subalterne Natur; von Geist auch nicht die kleinste Spur, ein Autodidakt ohne jede kritisch-logische Schulung; Fanny Hensel nennt ihn einmal „einen äußerst bornirten, durch Goethe völlig absorbirten Menschen"; Riemer eitel, rechthaberisch, und was schlimmer ist, in literarischer Arbeit gänz¬ lich gewissenlos. Noch bis auf den heutigen Tag ist bei manchem Goethischen Product, das in den nachgelassenen Werken erschien, nicht sicher ausgemacht, was Riemers Schlimmbesserungen auf Rechnung zu setzen ist. Dem Verfasser dieser Zeilen ist es immer ein Räthsel gewesen, wie Goethe diesen beiden Männern sein lange Jahre dauerndes Vertrauen so ausschließlich schenken konnte. Die Ausgabe seiner Werke hätte kaum in ungeeignetere Hände fallen können. Jetzt, wo die Briefe Goethes an Göttling vorliegen, sehen wir deutlich, wie es dem alten Olympier in vollem Ernst darum zu thun war, nicht bloß den „aufmerk¬ samsten Revisor" sich zu gewinnen, sondern anch einen Mann, der in der Kritik, welche an den unerreichten Mustern aller Schriftsteller, an den Griechen und Römern gelernt wird, wohl geschult war, der aber nicht darin aufging, sondern sich mit der Geistesfreiheit zu der herrlichsten Aufgabe des Philologen erhoben hatte, das Alterthum lebendig zu machen für Mit- und Nachwelt. Auch die Aufnahme der naturwissenschaftlichen Schriften in die Gesammtausgabe letzter Hand hatte Goethe frühzeitig ins Auge gefaßt. In einem bisher ungedruckten Briefe vom 13. Juni 1822 an Leopold von Henning spricht er sich darüber in folgenden Worten aus: „Ich bereite eine neue Ausgabe meiner sämmtlichen Werke, Schriften und literarischen Nachlasses vor. Dieses selbst aber allein leisten zu wollen wäre Verwegenheit. Für den ästhetischen und artistischen Theil interessiren sich ältere Freunde, wollten Sie den chromatischen und vielleicht den ganzen physischen übernehmen, so übersendete meine sämmtlichen Papiere und wir könnten noch so lang wir auf einer Erde zusammen sind uns darüber voll¬ kommen verständigen. Dies würde gegen Michael geschehen können, da Sie denn nach abgehaltenen Vorlesungen sich schon des ganzen Feldes Meister ge¬ macht hätten. Alsdann würde Ihr Geschäft seyn den dritten Theil der Farben¬ lehre zu redigiren und mit eigenen Erfahrungen, Einsichten und Ueberzeugungen ans Ganze anzuschließen und dadurch Ihren Beruf zu solchem Geschäft voll¬ kommen zu legitimiren." Es ist wohl kein Zweifel, daß der tief empfundene Brief, mit dem Göttling feine Goethe gewidmete Ausgabe der „Politik" des Aristoteles begleitete, aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/122>, abgerufen am 23.07.2024.