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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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tungen über denselben Gegenstand beziehen sich nur dem Namen nach auf den
gleichen Gegenstand; die Objecte sind verschieden; denn die Objecte sind eben
nicht die Dinge an sich, sondern die Sinnesbilder derselben. Unsere Sinne
sagen nur aus, daß dies oder jenes Bild unsere Seele berührt hat -- und das
ist immer richtig --, aber daraus folgt nicht, daß auch der Gegenstand selbst
so ist, wie er sich uns darstellt. Zwischen dem Sinnesbild und dem Ding an
sich steht das Erinnerungsbild, welches ans der wiederholten Wahrnehmung
gewonnen wird und gegenüber der einzelnen Wahrnehmung den Charakter des
Allgemeinen hat. Das Erinnerungsbild -- auch Begriff genannt, ^<^!/<t5 --
ist weniger gewiß als die ursprüngliche und einzelne Vorstellung, kann aber
gleichwohl eben ihrer Allgemeinheit halber für das Denken die größere Rolle
spielen. Auf diesen Erinnerungsbildern oder gedächtnißmäßigen Vorstellungen
beruht alles Reden und Denken, und die Sprache ist nur das Mittel, die Er¬
innerungen an bestimmte Anschauungen hervorzurufen. Das Erinnerungsbild
ist das Mittelglied beim Uebergange zu den Ursachen, d. h. bei der Forschung
nach dem Ding an sich. Auf dem Wege dieser Forschung entsteht die 6?ro^^t?
oder <5o5", die Meinung, welche, ohne ein Merkmal der Wahrheit in sich selbst,
erst durch die Wahrnehmung beglaubigt werden muß. Will sie sich der Wahr¬
nehmung entschlagen und unter eigener Flagge dahin segeln, so wird sie zum Wahne,
zur "tho'es; dieser aber ist zu hassen wie die heilige Krankheit, die fallende
Sucht."*)

Mys hatte geendigt. "v/e" (bravo, bravo), rief ihm freudestrahlend
Epikur zu; "e^ys, el 7s", folgte der ganze Chorus, in die Hände klatschend.
Mit triumphirender Miene ging Mys an seinen Platz zurück. Darauf erhob
sich Metrodor zum ^o/o? /e^e^t"x"?, zur Geburtstagsrede. Sie bewegte sich
nicht in jenen bei griechischen Grammatikern für einen solchen Speech vorge¬
schriebenen Gemeinplätzen, als da sind: Götter, Jahreszeit, Geburtsstadt, körper¬
liche und geistige Eigenthümlichkeiten des Gefeierten, mythische Parallelen, Hoff¬
nung für die Zukunft, Gebet für Glück und langes Leben; Metrodor wandelte
freiere Bahnen.

"Wir empfinden es alle, hehrer Meister," sprach er mit gehobener Stimme
und zum Zeichen der glückwünschenden Hoffnung in der linken Hand das Ge¬
wand halbhoch tragend, "daß der Einzelne einer fremden Persönlichkeit zu seiner



Das ist untadligster Sensualismus und Empirismus, Auf Empirismus, der ja
auch heutzutage vielfach mit bloßer Wahrscheinlichkeit vorlieb nimmt, sowie auf dem oben
gekennzeichneten Bildnngsschauer beruht es, daß Epikur in astronomischen, meteorologischen
und tellurischen Fragen von dem Grundsatze, mehrfache Erklärungen als gleich möglich hin-
zustellen, freiesten Gebrauch machte. Andererseits wurde er aber auch durch aprioristische
apodiktische Vehanptuugen, wie wir sie namentlich noch in seiner Lehre von den Urdingen
siudeu werden, dem Empirismus untreu.

tungen über denselben Gegenstand beziehen sich nur dem Namen nach auf den
gleichen Gegenstand; die Objecte sind verschieden; denn die Objecte sind eben
nicht die Dinge an sich, sondern die Sinnesbilder derselben. Unsere Sinne
sagen nur aus, daß dies oder jenes Bild unsere Seele berührt hat — und das
ist immer richtig —, aber daraus folgt nicht, daß auch der Gegenstand selbst
so ist, wie er sich uns darstellt. Zwischen dem Sinnesbild und dem Ding an
sich steht das Erinnerungsbild, welches ans der wiederholten Wahrnehmung
gewonnen wird und gegenüber der einzelnen Wahrnehmung den Charakter des
Allgemeinen hat. Das Erinnerungsbild — auch Begriff genannt, ^<^!/<t5 —
ist weniger gewiß als die ursprüngliche und einzelne Vorstellung, kann aber
gleichwohl eben ihrer Allgemeinheit halber für das Denken die größere Rolle
spielen. Auf diesen Erinnerungsbildern oder gedächtnißmäßigen Vorstellungen
beruht alles Reden und Denken, und die Sprache ist nur das Mittel, die Er¬
innerungen an bestimmte Anschauungen hervorzurufen. Das Erinnerungsbild
ist das Mittelglied beim Uebergange zu den Ursachen, d. h. bei der Forschung
nach dem Ding an sich. Auf dem Wege dieser Forschung entsteht die 6?ro^^t?
oder <5o5«, die Meinung, welche, ohne ein Merkmal der Wahrheit in sich selbst,
erst durch die Wahrnehmung beglaubigt werden muß. Will sie sich der Wahr¬
nehmung entschlagen und unter eigener Flagge dahin segeln, so wird sie zum Wahne,
zur »tho'es; dieser aber ist zu hassen wie die heilige Krankheit, die fallende
Sucht."*)

Mys hatte geendigt. «v/e" (bravo, bravo), rief ihm freudestrahlend
Epikur zu; „e^ys, el 7s", folgte der ganze Chorus, in die Hände klatschend.
Mit triumphirender Miene ging Mys an seinen Platz zurück. Darauf erhob
sich Metrodor zum ^o/o? /e^e^t«x»?, zur Geburtstagsrede. Sie bewegte sich
nicht in jenen bei griechischen Grammatikern für einen solchen Speech vorge¬
schriebenen Gemeinplätzen, als da sind: Götter, Jahreszeit, Geburtsstadt, körper¬
liche und geistige Eigenthümlichkeiten des Gefeierten, mythische Parallelen, Hoff¬
nung für die Zukunft, Gebet für Glück und langes Leben; Metrodor wandelte
freiere Bahnen.

„Wir empfinden es alle, hehrer Meister," sprach er mit gehobener Stimme
und zum Zeichen der glückwünschenden Hoffnung in der linken Hand das Ge¬
wand halbhoch tragend, „daß der Einzelne einer fremden Persönlichkeit zu seiner



Das ist untadligster Sensualismus und Empirismus, Auf Empirismus, der ja
auch heutzutage vielfach mit bloßer Wahrscheinlichkeit vorlieb nimmt, sowie auf dem oben
gekennzeichneten Bildnngsschauer beruht es, daß Epikur in astronomischen, meteorologischen
und tellurischen Fragen von dem Grundsatze, mehrfache Erklärungen als gleich möglich hin-
zustellen, freiesten Gebrauch machte. Andererseits wurde er aber auch durch aprioristische
apodiktische Vehanptuugen, wie wir sie namentlich noch in seiner Lehre von den Urdingen
siudeu werden, dem Empirismus untreu.
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[0111] tungen über denselben Gegenstand beziehen sich nur dem Namen nach auf den gleichen Gegenstand; die Objecte sind verschieden; denn die Objecte sind eben nicht die Dinge an sich, sondern die Sinnesbilder derselben. Unsere Sinne sagen nur aus, daß dies oder jenes Bild unsere Seele berührt hat — und das ist immer richtig —, aber daraus folgt nicht, daß auch der Gegenstand selbst so ist, wie er sich uns darstellt. Zwischen dem Sinnesbild und dem Ding an sich steht das Erinnerungsbild, welches ans der wiederholten Wahrnehmung gewonnen wird und gegenüber der einzelnen Wahrnehmung den Charakter des Allgemeinen hat. Das Erinnerungsbild — auch Begriff genannt, ^<^!/<t5 — ist weniger gewiß als die ursprüngliche und einzelne Vorstellung, kann aber gleichwohl eben ihrer Allgemeinheit halber für das Denken die größere Rolle spielen. Auf diesen Erinnerungsbildern oder gedächtnißmäßigen Vorstellungen beruht alles Reden und Denken, und die Sprache ist nur das Mittel, die Er¬ innerungen an bestimmte Anschauungen hervorzurufen. Das Erinnerungsbild ist das Mittelglied beim Uebergange zu den Ursachen, d. h. bei der Forschung nach dem Ding an sich. Auf dem Wege dieser Forschung entsteht die 6?ro^^t? oder <5o5«, die Meinung, welche, ohne ein Merkmal der Wahrheit in sich selbst, erst durch die Wahrnehmung beglaubigt werden muß. Will sie sich der Wahr¬ nehmung entschlagen und unter eigener Flagge dahin segeln, so wird sie zum Wahne, zur »tho'es; dieser aber ist zu hassen wie die heilige Krankheit, die fallende Sucht."*) Mys hatte geendigt. «v/e" (bravo, bravo), rief ihm freudestrahlend Epikur zu; „e^ys, el 7s", folgte der ganze Chorus, in die Hände klatschend. Mit triumphirender Miene ging Mys an seinen Platz zurück. Darauf erhob sich Metrodor zum ^o/o? /e^e^t«x»?, zur Geburtstagsrede. Sie bewegte sich nicht in jenen bei griechischen Grammatikern für einen solchen Speech vorge¬ schriebenen Gemeinplätzen, als da sind: Götter, Jahreszeit, Geburtsstadt, körper¬ liche und geistige Eigenthümlichkeiten des Gefeierten, mythische Parallelen, Hoff¬ nung für die Zukunft, Gebet für Glück und langes Leben; Metrodor wandelte freiere Bahnen. „Wir empfinden es alle, hehrer Meister," sprach er mit gehobener Stimme und zum Zeichen der glückwünschenden Hoffnung in der linken Hand das Ge¬ wand halbhoch tragend, „daß der Einzelne einer fremden Persönlichkeit zu seiner Das ist untadligster Sensualismus und Empirismus, Auf Empirismus, der ja auch heutzutage vielfach mit bloßer Wahrscheinlichkeit vorlieb nimmt, sowie auf dem oben gekennzeichneten Bildnngsschauer beruht es, daß Epikur in astronomischen, meteorologischen und tellurischen Fragen von dem Grundsatze, mehrfache Erklärungen als gleich möglich hin- zustellen, freiesten Gebrauch machte. Andererseits wurde er aber auch durch aprioristische apodiktische Vehanptuugen, wie wir sie namentlich noch in seiner Lehre von den Urdingen siudeu werden, dem Empirismus untreu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/111>, abgerufen am 23.07.2024.