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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Paris, anscheinend, um dort eine Anleihe abzuschließen, in Wirklichkeit, um sich
zu versichern, ob die französische Regierung geneigt sei, gegen die anderen Mächte
und die entsetzte Dynastie die Wahl des Herzogs von Nemours für den Fall
zu unterstützen, daß er die Stimmen des Kongresses auf sich vereinige. Die
Antwort war keine ermuthigende. Es sei, so sagte man ihm, einzig und allein
die Sache Belgiens, bei sich zu Hause die mächtigen Intriguen, von denen man
Meldung erhalten, zu bekämpfen; Frankreich könne, ohne gegen das Princip der
Nichteinmischung zu verstoßen, nicht interveniren, um den König Wilhelm oder
den Prinzen von Oranien beiseite schieben zu helfen.

Der Sieg Brüssels hatte die belgische Nation elektrisirt, und die Proviso¬
rische Regierung gewann fortwährend an Boden. Die Holländer gaben, bedrängt
von den Massen, die sie von allen Seiten einschlossen, einen befestigten Platz
nach dem anderen auf und befanden sich zuletzt nur noch im Besitze vou Mastricht
und Antwerpen. Die belgischen Freiwilligen folgten der holländischen Armee
und hörten nicht auf, ihr kleine Gefechte zu liefern. In einem dieser Schar¬
mützel zeichnete sich der junge Graf Frederic de Merode aus und wurde schwer
verwundet. Er gehörte einem alten außerordentlich reichen Hause an, das immer
der katholischen Kirche sehr anhänglich gewesen war, und war vou seinem fran¬
zösischen Schlosse Blanville, als der Kampf ausgebrochen, sofort nach Brüssel
geeilt, um als einfacher Freiwilliger in die Chastellersche Jägercompagnie ein¬
zutreten, in der er neben dem Ritter Dechez, dem Dichter der "Brabanconne",
des Nationalliedes der Belgier, die holländische Armee verfolgen half. Bei
Berghem focht er in den ersten Reihen seiner Landsleute, und eine Kugel zer¬
schmetterte ihm das rechte Bein. Seine Tapferkeit und feine übrigen edlen
Eigenschaften lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn, und mehrere Blätter
regten den Gedanken an, ihn dem Congreß als zukünftiges Staatsoberhaupt
vorzuschlagen, und dieser Gedanke würde vielleicht zur Wirklichkeit geworden
sein, wenn der Graf nicht am 4. November seiner Wunde erlegen wäre.

Inzwischen hatte sich König Wilhelm entschlossen, die Belgier durch Zuge¬
ständnisse zu versöhnen und wiederzugewinnen. Ein Erlaß vom 4. October be¬
auftragte den Prinzen von Oranien mit zeitweiliger Regierung der südlichen
Provinzen, in welchen die gesetzliche Autorität noch anerkannt war. Er sollte
in Antwerpen residiren und, unterstützt von drei Ministern, lauter Belgiern, das
Versvhnungswerk beginnen. Am 5. October erließ der Prinz eine Proclamation,
in der er verkündete, daß der König die Wünsche der Belgier nach einer Tren¬
nung bewillige. Derselbe gewähre provisorisch den Südprovinzen seines Reiches
eine gesonderte Verwaltung, die ganz aus Belgiern bestehen solle, die Angelegen¬
heiten sollten hier in derjenigen Sprache verhandelt werden, welche jeder Betreffende
Wählen würde, alle von dieser Regierung abhängigen Stellen sollten ausschließ-


Paris, anscheinend, um dort eine Anleihe abzuschließen, in Wirklichkeit, um sich
zu versichern, ob die französische Regierung geneigt sei, gegen die anderen Mächte
und die entsetzte Dynastie die Wahl des Herzogs von Nemours für den Fall
zu unterstützen, daß er die Stimmen des Kongresses auf sich vereinige. Die
Antwort war keine ermuthigende. Es sei, so sagte man ihm, einzig und allein
die Sache Belgiens, bei sich zu Hause die mächtigen Intriguen, von denen man
Meldung erhalten, zu bekämpfen; Frankreich könne, ohne gegen das Princip der
Nichteinmischung zu verstoßen, nicht interveniren, um den König Wilhelm oder
den Prinzen von Oranien beiseite schieben zu helfen.

Der Sieg Brüssels hatte die belgische Nation elektrisirt, und die Proviso¬
rische Regierung gewann fortwährend an Boden. Die Holländer gaben, bedrängt
von den Massen, die sie von allen Seiten einschlossen, einen befestigten Platz
nach dem anderen auf und befanden sich zuletzt nur noch im Besitze vou Mastricht
und Antwerpen. Die belgischen Freiwilligen folgten der holländischen Armee
und hörten nicht auf, ihr kleine Gefechte zu liefern. In einem dieser Schar¬
mützel zeichnete sich der junge Graf Frederic de Merode aus und wurde schwer
verwundet. Er gehörte einem alten außerordentlich reichen Hause an, das immer
der katholischen Kirche sehr anhänglich gewesen war, und war vou seinem fran¬
zösischen Schlosse Blanville, als der Kampf ausgebrochen, sofort nach Brüssel
geeilt, um als einfacher Freiwilliger in die Chastellersche Jägercompagnie ein¬
zutreten, in der er neben dem Ritter Dechez, dem Dichter der „Brabanconne",
des Nationalliedes der Belgier, die holländische Armee verfolgen half. Bei
Berghem focht er in den ersten Reihen seiner Landsleute, und eine Kugel zer¬
schmetterte ihm das rechte Bein. Seine Tapferkeit und feine übrigen edlen
Eigenschaften lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn, und mehrere Blätter
regten den Gedanken an, ihn dem Congreß als zukünftiges Staatsoberhaupt
vorzuschlagen, und dieser Gedanke würde vielleicht zur Wirklichkeit geworden
sein, wenn der Graf nicht am 4. November seiner Wunde erlegen wäre.

Inzwischen hatte sich König Wilhelm entschlossen, die Belgier durch Zuge¬
ständnisse zu versöhnen und wiederzugewinnen. Ein Erlaß vom 4. October be¬
auftragte den Prinzen von Oranien mit zeitweiliger Regierung der südlichen
Provinzen, in welchen die gesetzliche Autorität noch anerkannt war. Er sollte
in Antwerpen residiren und, unterstützt von drei Ministern, lauter Belgiern, das
Versvhnungswerk beginnen. Am 5. October erließ der Prinz eine Proclamation,
in der er verkündete, daß der König die Wünsche der Belgier nach einer Tren¬
nung bewillige. Derselbe gewähre provisorisch den Südprovinzen seines Reiches
eine gesonderte Verwaltung, die ganz aus Belgiern bestehen solle, die Angelegen¬
heiten sollten hier in derjenigen Sprache verhandelt werden, welche jeder Betreffende
Wählen würde, alle von dieser Regierung abhängigen Stellen sollten ausschließ-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/106>, abgerufen am 23.07.2024.