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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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steriums in die Hände gearbeitet. Zwar war der Präsident noch vor kurzem
für sein Cabinet eingetreten, aber das schwächliche Vertrauensvotum, das Wad-
dingtvn dann in der Frage der Magistratur davongetragen, hatte Grevy wan¬
kend gemacht. Der Justizminister Leroyer gab seine Entlassung ein, und das
Cabinet begann damit zu zerbröckeln. Nachdem die letzte Amnestiedebatte vor
den Weihnachtsferien demselben neben andern Demüthigungen ein zweites laues
Vertrauensvotum gebracht hatte, mußte man schon seinen unverzüglichen Zerfall
und den Eintritt radikalerer Elemente in die neue Combination erwarten, und
diese Erwartung erfüllte sich,

Sonntag den 21. December erbaten sich sämmtliche Minister ihre Entlas¬
sung, und der Präsident ließ aus Waddingtons Nath den bisherigen Minister
der öffentlichen Arbeiten de Freycinet zu sich bescheiden, um ihn mit der Bil¬
dung eines neuen Cabinets zu beauftragen. Dieser gewann bei einer Bespre¬
chung mit seinen Kollegen vom linken Centrum die Ueberzeugung, daß dieselben
keinem Ministerium beitreten würden, welchem Mitglieder derjenigen Gruppe
der republikanischen Union angehörten, die in der Amnestiefrage gegen das der
Regierung ertheilte Vertrauensvotum gestimmt hatten. Zu gleicher Zeit eröff¬
neten ihm Waddington und Leon Sah, daß sie zu keiner Veränderung des
Negiernngsprogramms die Hand bieten würden. Daraufhin ersuchte de Frey¬
cinet den Präsidenten, von ihm in Betreff der Umbildung des Cabinets abzu¬
sehen und sich an Waddington zu wenden. Letzteres geschah, und Waddington
glaubte sein Ziel zu erreichen, wenn er dem Gambettisten Challemel-Lacour, der
zur Zeit Gesandter Frankreichs bei der Eidgenossenschaft war, das Ministerium
des Innern anbote. Aber noch an demselben Tage, dem 23., berief Grevy nach
einer Berathung mit einigen der bisherigen Minister de Freycinet von neuem
zu sich, so daß es schien, als ob die Bildung des neuen Cabinets von zwei
Seiten zugleich versucht werden sollte, und als Challemel-Lacour ablehnte, trat
Waddington definitiv zurück, wobei er sich indeß bereit erklärte, Minister des
Auswärtigen unter dem neuen Premier de Freycinet zu bleiben. Letzterer
wandte sich nun an die Mitglieder der republikanischen Union und glaubte sich
nach einer Besprechung mit deren Führern eine Majorität im Abgeordnetenhause
zu sichern, wenn er Waddington nicht bloß in der Ministerpräsidentschaft, fon¬
dern auch im Auswärtigen Amte ablöste. Jetzt erklärte Leon Sah, in diesem
Falle nicht im Cabinet verbleiben zu können, und beharrte dabei auch, als man
ihm anbot, mit Casimir Perier, der das Portefeuille des Innern erhalten sollte,
in das neue Cabinet zu treten. Als dieses Anerbieten abgelehnt wurde, suchte
de Freycinet wiederum Waddington auf, legte ihm die von ihm entworfene
Ministerliste mit Says Namen vor und trug ihm die Botschaft in London an,
indem er annahm, Say werde, wenn Waddington eine so wichtige Stelle erhielte,


steriums in die Hände gearbeitet. Zwar war der Präsident noch vor kurzem
für sein Cabinet eingetreten, aber das schwächliche Vertrauensvotum, das Wad-
dingtvn dann in der Frage der Magistratur davongetragen, hatte Grevy wan¬
kend gemacht. Der Justizminister Leroyer gab seine Entlassung ein, und das
Cabinet begann damit zu zerbröckeln. Nachdem die letzte Amnestiedebatte vor
den Weihnachtsferien demselben neben andern Demüthigungen ein zweites laues
Vertrauensvotum gebracht hatte, mußte man schon seinen unverzüglichen Zerfall
und den Eintritt radikalerer Elemente in die neue Combination erwarten, und
diese Erwartung erfüllte sich,

Sonntag den 21. December erbaten sich sämmtliche Minister ihre Entlas¬
sung, und der Präsident ließ aus Waddingtons Nath den bisherigen Minister
der öffentlichen Arbeiten de Freycinet zu sich bescheiden, um ihn mit der Bil¬
dung eines neuen Cabinets zu beauftragen. Dieser gewann bei einer Bespre¬
chung mit seinen Kollegen vom linken Centrum die Ueberzeugung, daß dieselben
keinem Ministerium beitreten würden, welchem Mitglieder derjenigen Gruppe
der republikanischen Union angehörten, die in der Amnestiefrage gegen das der
Regierung ertheilte Vertrauensvotum gestimmt hatten. Zu gleicher Zeit eröff¬
neten ihm Waddington und Leon Sah, daß sie zu keiner Veränderung des
Negiernngsprogramms die Hand bieten würden. Daraufhin ersuchte de Frey¬
cinet den Präsidenten, von ihm in Betreff der Umbildung des Cabinets abzu¬
sehen und sich an Waddington zu wenden. Letzteres geschah, und Waddington
glaubte sein Ziel zu erreichen, wenn er dem Gambettisten Challemel-Lacour, der
zur Zeit Gesandter Frankreichs bei der Eidgenossenschaft war, das Ministerium
des Innern anbote. Aber noch an demselben Tage, dem 23., berief Grevy nach
einer Berathung mit einigen der bisherigen Minister de Freycinet von neuem
zu sich, so daß es schien, als ob die Bildung des neuen Cabinets von zwei
Seiten zugleich versucht werden sollte, und als Challemel-Lacour ablehnte, trat
Waddington definitiv zurück, wobei er sich indeß bereit erklärte, Minister des
Auswärtigen unter dem neuen Premier de Freycinet zu bleiben. Letzterer
wandte sich nun an die Mitglieder der republikanischen Union und glaubte sich
nach einer Besprechung mit deren Führern eine Majorität im Abgeordnetenhause
zu sichern, wenn er Waddington nicht bloß in der Ministerpräsidentschaft, fon¬
dern auch im Auswärtigen Amte ablöste. Jetzt erklärte Leon Sah, in diesem
Falle nicht im Cabinet verbleiben zu können, und beharrte dabei auch, als man
ihm anbot, mit Casimir Perier, der das Portefeuille des Innern erhalten sollte,
in das neue Cabinet zu treten. Als dieses Anerbieten abgelehnt wurde, suchte
de Freycinet wiederum Waddington auf, legte ihm die von ihm entworfene
Ministerliste mit Says Namen vor und trug ihm die Botschaft in London an,
indem er annahm, Say werde, wenn Waddington eine so wichtige Stelle erhielte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/90>, abgerufen am 25.08.2024.