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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Drang würden wir die UnVollkommenheit der Welt nicht empfinden; nur am
Maßstabe des Vollkommnen beurtheilt, der, an der Außenwelt erwachend, doch
dem Inneren entstammt, tritt dieselbe in unser Bewußtsein. So entsteht eine
Spannung in unserer Seele zwischen Sollen und Sein; und es ist die Phan¬
tasie, welche sie löst, indem sie eine ideale Welt bildet, in der diese Gegensätze
ausgeglichen sind. Und ihr dürfen wir in einem besonderen Sinne den Namen
der unsichtbaren Welt geben, da nur ihr Stoff, aber nicht ihre Gestalt den
Elementen des sichtbaren Daseins entnommen ist. Welche Fülle, welche Kraft
dankt die unsichtbare Welt des Geistes dem Gemüthe! Reichthum und Werth
eines Menschenlebens, beurtheilt nicht nach dem Maße dessen, was es der Außen¬
welt, sondern nach dem Maße dessen, was es der eigenen Welt gewährt, wird
durch den Umfang und die Kraft des Gemüths bestimmt.

Nur die allgemeinsten Umrisse der unsichtbaren Welt, die sich im Innern
der Seele erbaut, aber nicht ihren concreten Inhalt haben wir bis jetzt gezeichnet.
Nur ihre leeren Formen, aber nicht das sie erfüllende Leben ist vor unser Auge
getreten. Die wichtigste Aufgabe wartet unsrer noch.

Unser Erkennen sucht die letzten Gründe, die höchsten Zwecke, auf denen
die Welt ruht, und die ihr gebieten. So kann es nur in der Idee Gottes
seinen Abschluß finden, sie allein erklärt den Zusammenhang des Seienden, seine
Einheit, die Wechselwirkung, welche die Vielheit zu einem Ganzen bildet. Und
einmal ergriffen, wird die Idee Gottes das allbestimmende Princip der Welt¬
anschauung.

Handelnd drücken wir das Siegel des eigenen Seins auf die Außenwelt.
Aber wo suchen wir die Norm des Handelns, wo das Vorbild, nach dem wir
das eigene Sein bestimmen, wo die Gewalt, durch welche wir die Macht der Be¬
gierde zu brechen hoffen? Wieder entsteht in der Seele die Idee Gottes; seinem
Willen trachten wir zu folgen, sein Sein wird die Quelle, ans der wir die Kräfte
höheren sittlichen Lebens schöpfen.

In dem Gemüthe erfahren wir unser eigenes Selbst, sammeln wir die
Erträge der Arbeit und bilden sie der Seele ein als Elemente ihres bleibenden
Seins. Hier wird die Idee Gottes erfahren als der Ursprung höchster Freude;
die Harmonie der Gesammtanschauung, der Ertrag der Arbeit des Erkennens,
erzeugt beseligende Kräfte; die Uebereinstimmung der Norm des göttlichen Willens
mit unserem Handeln und unserer Selbstbestimmung, das Ergebniß harter Kämpfe,
weckt freudige Hoffnung, das Ziel zu erreichen. Aber freilich Irrwege des Er¬
kennens, die zu einer disharmonischen Gesammtanschauung geleitet haben; Ver¬
fehlungen, die uns in Widerspruch mit dem Willen Gottes gesetzt haben, erregen
die tiefste Unlust und den größten Schmerz. Denn das Gemüth ist die Stätte
des Gewissens und so zugleich der unmittelbarsten Offenbarung Gottes. Bevor


Drang würden wir die UnVollkommenheit der Welt nicht empfinden; nur am
Maßstabe des Vollkommnen beurtheilt, der, an der Außenwelt erwachend, doch
dem Inneren entstammt, tritt dieselbe in unser Bewußtsein. So entsteht eine
Spannung in unserer Seele zwischen Sollen und Sein; und es ist die Phan¬
tasie, welche sie löst, indem sie eine ideale Welt bildet, in der diese Gegensätze
ausgeglichen sind. Und ihr dürfen wir in einem besonderen Sinne den Namen
der unsichtbaren Welt geben, da nur ihr Stoff, aber nicht ihre Gestalt den
Elementen des sichtbaren Daseins entnommen ist. Welche Fülle, welche Kraft
dankt die unsichtbare Welt des Geistes dem Gemüthe! Reichthum und Werth
eines Menschenlebens, beurtheilt nicht nach dem Maße dessen, was es der Außen¬
welt, sondern nach dem Maße dessen, was es der eigenen Welt gewährt, wird
durch den Umfang und die Kraft des Gemüths bestimmt.

Nur die allgemeinsten Umrisse der unsichtbaren Welt, die sich im Innern
der Seele erbaut, aber nicht ihren concreten Inhalt haben wir bis jetzt gezeichnet.
Nur ihre leeren Formen, aber nicht das sie erfüllende Leben ist vor unser Auge
getreten. Die wichtigste Aufgabe wartet unsrer noch.

Unser Erkennen sucht die letzten Gründe, die höchsten Zwecke, auf denen
die Welt ruht, und die ihr gebieten. So kann es nur in der Idee Gottes
seinen Abschluß finden, sie allein erklärt den Zusammenhang des Seienden, seine
Einheit, die Wechselwirkung, welche die Vielheit zu einem Ganzen bildet. Und
einmal ergriffen, wird die Idee Gottes das allbestimmende Princip der Welt¬
anschauung.

Handelnd drücken wir das Siegel des eigenen Seins auf die Außenwelt.
Aber wo suchen wir die Norm des Handelns, wo das Vorbild, nach dem wir
das eigene Sein bestimmen, wo die Gewalt, durch welche wir die Macht der Be¬
gierde zu brechen hoffen? Wieder entsteht in der Seele die Idee Gottes; seinem
Willen trachten wir zu folgen, sein Sein wird die Quelle, ans der wir die Kräfte
höheren sittlichen Lebens schöpfen.

In dem Gemüthe erfahren wir unser eigenes Selbst, sammeln wir die
Erträge der Arbeit und bilden sie der Seele ein als Elemente ihres bleibenden
Seins. Hier wird die Idee Gottes erfahren als der Ursprung höchster Freude;
die Harmonie der Gesammtanschauung, der Ertrag der Arbeit des Erkennens,
erzeugt beseligende Kräfte; die Uebereinstimmung der Norm des göttlichen Willens
mit unserem Handeln und unserer Selbstbestimmung, das Ergebniß harter Kämpfe,
weckt freudige Hoffnung, das Ziel zu erreichen. Aber freilich Irrwege des Er¬
kennens, die zu einer disharmonischen Gesammtanschauung geleitet haben; Ver¬
fehlungen, die uns in Widerspruch mit dem Willen Gottes gesetzt haben, erregen
die tiefste Unlust und den größten Schmerz. Denn das Gemüth ist die Stätte
des Gewissens und so zugleich der unmittelbarsten Offenbarung Gottes. Bevor


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[0543] Drang würden wir die UnVollkommenheit der Welt nicht empfinden; nur am Maßstabe des Vollkommnen beurtheilt, der, an der Außenwelt erwachend, doch dem Inneren entstammt, tritt dieselbe in unser Bewußtsein. So entsteht eine Spannung in unserer Seele zwischen Sollen und Sein; und es ist die Phan¬ tasie, welche sie löst, indem sie eine ideale Welt bildet, in der diese Gegensätze ausgeglichen sind. Und ihr dürfen wir in einem besonderen Sinne den Namen der unsichtbaren Welt geben, da nur ihr Stoff, aber nicht ihre Gestalt den Elementen des sichtbaren Daseins entnommen ist. Welche Fülle, welche Kraft dankt die unsichtbare Welt des Geistes dem Gemüthe! Reichthum und Werth eines Menschenlebens, beurtheilt nicht nach dem Maße dessen, was es der Außen¬ welt, sondern nach dem Maße dessen, was es der eigenen Welt gewährt, wird durch den Umfang und die Kraft des Gemüths bestimmt. Nur die allgemeinsten Umrisse der unsichtbaren Welt, die sich im Innern der Seele erbaut, aber nicht ihren concreten Inhalt haben wir bis jetzt gezeichnet. Nur ihre leeren Formen, aber nicht das sie erfüllende Leben ist vor unser Auge getreten. Die wichtigste Aufgabe wartet unsrer noch. Unser Erkennen sucht die letzten Gründe, die höchsten Zwecke, auf denen die Welt ruht, und die ihr gebieten. So kann es nur in der Idee Gottes seinen Abschluß finden, sie allein erklärt den Zusammenhang des Seienden, seine Einheit, die Wechselwirkung, welche die Vielheit zu einem Ganzen bildet. Und einmal ergriffen, wird die Idee Gottes das allbestimmende Princip der Welt¬ anschauung. Handelnd drücken wir das Siegel des eigenen Seins auf die Außenwelt. Aber wo suchen wir die Norm des Handelns, wo das Vorbild, nach dem wir das eigene Sein bestimmen, wo die Gewalt, durch welche wir die Macht der Be¬ gierde zu brechen hoffen? Wieder entsteht in der Seele die Idee Gottes; seinem Willen trachten wir zu folgen, sein Sein wird die Quelle, ans der wir die Kräfte höheren sittlichen Lebens schöpfen. In dem Gemüthe erfahren wir unser eigenes Selbst, sammeln wir die Erträge der Arbeit und bilden sie der Seele ein als Elemente ihres bleibenden Seins. Hier wird die Idee Gottes erfahren als der Ursprung höchster Freude; die Harmonie der Gesammtanschauung, der Ertrag der Arbeit des Erkennens, erzeugt beseligende Kräfte; die Uebereinstimmung der Norm des göttlichen Willens mit unserem Handeln und unserer Selbstbestimmung, das Ergebniß harter Kämpfe, weckt freudige Hoffnung, das Ziel zu erreichen. Aber freilich Irrwege des Er¬ kennens, die zu einer disharmonischen Gesammtanschauung geleitet haben; Ver¬ fehlungen, die uns in Widerspruch mit dem Willen Gottes gesetzt haben, erregen die tiefste Unlust und den größten Schmerz. Denn das Gemüth ist die Stätte des Gewissens und so zugleich der unmittelbarsten Offenbarung Gottes. Bevor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/543>, abgerufen am 23.07.2024.