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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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zu formen, das die Sinne darbieten. Die unsichtbare Welt, die hier sich bildet,
ist nur der Schatten, den die äußere Welt in die Seele wirft, nur eine Copie
der Außenwelt und eben deshalb ohne Werth. Denn welche Bedeutung kaun
es für den Menschen haben, welchen Gewinn ihm bringen, daß die Außenwelt
sich in ihm wiederholt! Nicht einmal den Reiz einer Kraftübung, da die Um¬
bildung der Empfindungen in Vorstellungen ein mechanischer Vorgang ist, für
den unsere Seele den Schauplatz hergiebt, ohne freithätig einzugreifen. Die
unsichtbare Welt hat hier keinen eigenen Inhalt, keinen eigenen Werth.

Alle großen Philosophen, welchen die Geschichte classische, vorbildliche Be¬
deutung zugestanden hat, sehen in der Seele ein Wesen, das die Kraft besitzt,
in dem denkenden Geiste über die Welt der Erfahrung hinauszugehen, die Gründe,
auf denen sie ruht, die Zwecke, die in ihr sich verwirklichen, die Gesetze, die ihr
gebieten, zu erkennen. Die unsichtbare Welt ist hier nicht bloß ein Abbild der
sichtbaren, sondern eine Wiedererzeugung derselben von ihren letzten Voraus¬
setzungen aus. Es bleibt dabei unerheblich, ob diese Aufgabe als vollkommen
lösbar angesehen wird oder nicht; ob, falls letzteres geschieht, die Grenzen der
Erkenntniß hier auf einem früheren, dort auf einem späteren Stadium des Weges
gezogen werden; es ist gleichgiltig, ob der letzte Ausblick, den ein System ge¬
währt, bestimmtere Gestalten zeigt oder in verschwimmenden Linien abschließt;
das Charakteristische in den Systemen der großen Philosophen ist das, daß sie
alle den Weg der Welterklärung, des Weltbegreifens beschreiben, daß die Seele
zu einer unsichtbaren Welt sich erschließt. Es könnte scheinen, als ob der Reich¬
thum derselben wüchse, wenn, wie der Spiritualismus es thut, das ganze Ge¬
biet des Körperlichen als ein Schein angesehen und nur der Seele Realität
zuerkannt wird. Allein dies ist nicht der Fall, denn der Spiritualismus entzieht
dem denkenden Geiste ein Object, eben die Körperwelt. Denn besitzt diese keine
Wirklichkeit, wie kann sie erkannt werden? Der Spiritualismus vereinsamt den
Geist und macht ihn ärmer. Die unsichtbare Welt hat von ihm keinen Zuwachs
zu erwarten.

Die denkende Thätigkeit der Seele gestaltet die Welt, indem sie dieselbe
auf ihre letzten Principien zurückführt und so sich eine unsichtbare Welt bereitet;
aber im Wollen und Handeln tritt die Seele aus sich Heraus und stellt die
Bestimmtheit ihres Seins in der äußeren Wirklichkeit dar. So bewährt sich
die Seele als eine Macht, die über ihre unmittelbaren Grenzen hinauswirkt.

Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß im Handeln und durch dasselbe
die unsichtbare Welt der Seele sich nicht nur offenbart, sondern auch neue
Elemente in sich aufnimmt. Handelnd und wirkend reizt sie die Außenwelt, sich
zu erschließen und in neue Beziehungen zu ihr zu treten. Freilich fragt es sich,
sowohl ob wir in unserm Thun eine Richtung einschlagen, die geeignet ist, ver-


zu formen, das die Sinne darbieten. Die unsichtbare Welt, die hier sich bildet,
ist nur der Schatten, den die äußere Welt in die Seele wirft, nur eine Copie
der Außenwelt und eben deshalb ohne Werth. Denn welche Bedeutung kaun
es für den Menschen haben, welchen Gewinn ihm bringen, daß die Außenwelt
sich in ihm wiederholt! Nicht einmal den Reiz einer Kraftübung, da die Um¬
bildung der Empfindungen in Vorstellungen ein mechanischer Vorgang ist, für
den unsere Seele den Schauplatz hergiebt, ohne freithätig einzugreifen. Die
unsichtbare Welt hat hier keinen eigenen Inhalt, keinen eigenen Werth.

Alle großen Philosophen, welchen die Geschichte classische, vorbildliche Be¬
deutung zugestanden hat, sehen in der Seele ein Wesen, das die Kraft besitzt,
in dem denkenden Geiste über die Welt der Erfahrung hinauszugehen, die Gründe,
auf denen sie ruht, die Zwecke, die in ihr sich verwirklichen, die Gesetze, die ihr
gebieten, zu erkennen. Die unsichtbare Welt ist hier nicht bloß ein Abbild der
sichtbaren, sondern eine Wiedererzeugung derselben von ihren letzten Voraus¬
setzungen aus. Es bleibt dabei unerheblich, ob diese Aufgabe als vollkommen
lösbar angesehen wird oder nicht; ob, falls letzteres geschieht, die Grenzen der
Erkenntniß hier auf einem früheren, dort auf einem späteren Stadium des Weges
gezogen werden; es ist gleichgiltig, ob der letzte Ausblick, den ein System ge¬
währt, bestimmtere Gestalten zeigt oder in verschwimmenden Linien abschließt;
das Charakteristische in den Systemen der großen Philosophen ist das, daß sie
alle den Weg der Welterklärung, des Weltbegreifens beschreiben, daß die Seele
zu einer unsichtbaren Welt sich erschließt. Es könnte scheinen, als ob der Reich¬
thum derselben wüchse, wenn, wie der Spiritualismus es thut, das ganze Ge¬
biet des Körperlichen als ein Schein angesehen und nur der Seele Realität
zuerkannt wird. Allein dies ist nicht der Fall, denn der Spiritualismus entzieht
dem denkenden Geiste ein Object, eben die Körperwelt. Denn besitzt diese keine
Wirklichkeit, wie kann sie erkannt werden? Der Spiritualismus vereinsamt den
Geist und macht ihn ärmer. Die unsichtbare Welt hat von ihm keinen Zuwachs
zu erwarten.

Die denkende Thätigkeit der Seele gestaltet die Welt, indem sie dieselbe
auf ihre letzten Principien zurückführt und so sich eine unsichtbare Welt bereitet;
aber im Wollen und Handeln tritt die Seele aus sich Heraus und stellt die
Bestimmtheit ihres Seins in der äußeren Wirklichkeit dar. So bewährt sich
die Seele als eine Macht, die über ihre unmittelbaren Grenzen hinauswirkt.

Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß im Handeln und durch dasselbe
die unsichtbare Welt der Seele sich nicht nur offenbart, sondern auch neue
Elemente in sich aufnimmt. Handelnd und wirkend reizt sie die Außenwelt, sich
zu erschließen und in neue Beziehungen zu ihr zu treten. Freilich fragt es sich,
sowohl ob wir in unserm Thun eine Richtung einschlagen, die geeignet ist, ver-


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[0541] zu formen, das die Sinne darbieten. Die unsichtbare Welt, die hier sich bildet, ist nur der Schatten, den die äußere Welt in die Seele wirft, nur eine Copie der Außenwelt und eben deshalb ohne Werth. Denn welche Bedeutung kaun es für den Menschen haben, welchen Gewinn ihm bringen, daß die Außenwelt sich in ihm wiederholt! Nicht einmal den Reiz einer Kraftübung, da die Um¬ bildung der Empfindungen in Vorstellungen ein mechanischer Vorgang ist, für den unsere Seele den Schauplatz hergiebt, ohne freithätig einzugreifen. Die unsichtbare Welt hat hier keinen eigenen Inhalt, keinen eigenen Werth. Alle großen Philosophen, welchen die Geschichte classische, vorbildliche Be¬ deutung zugestanden hat, sehen in der Seele ein Wesen, das die Kraft besitzt, in dem denkenden Geiste über die Welt der Erfahrung hinauszugehen, die Gründe, auf denen sie ruht, die Zwecke, die in ihr sich verwirklichen, die Gesetze, die ihr gebieten, zu erkennen. Die unsichtbare Welt ist hier nicht bloß ein Abbild der sichtbaren, sondern eine Wiedererzeugung derselben von ihren letzten Voraus¬ setzungen aus. Es bleibt dabei unerheblich, ob diese Aufgabe als vollkommen lösbar angesehen wird oder nicht; ob, falls letzteres geschieht, die Grenzen der Erkenntniß hier auf einem früheren, dort auf einem späteren Stadium des Weges gezogen werden; es ist gleichgiltig, ob der letzte Ausblick, den ein System ge¬ währt, bestimmtere Gestalten zeigt oder in verschwimmenden Linien abschließt; das Charakteristische in den Systemen der großen Philosophen ist das, daß sie alle den Weg der Welterklärung, des Weltbegreifens beschreiben, daß die Seele zu einer unsichtbaren Welt sich erschließt. Es könnte scheinen, als ob der Reich¬ thum derselben wüchse, wenn, wie der Spiritualismus es thut, das ganze Ge¬ biet des Körperlichen als ein Schein angesehen und nur der Seele Realität zuerkannt wird. Allein dies ist nicht der Fall, denn der Spiritualismus entzieht dem denkenden Geiste ein Object, eben die Körperwelt. Denn besitzt diese keine Wirklichkeit, wie kann sie erkannt werden? Der Spiritualismus vereinsamt den Geist und macht ihn ärmer. Die unsichtbare Welt hat von ihm keinen Zuwachs zu erwarten. Die denkende Thätigkeit der Seele gestaltet die Welt, indem sie dieselbe auf ihre letzten Principien zurückführt und so sich eine unsichtbare Welt bereitet; aber im Wollen und Handeln tritt die Seele aus sich Heraus und stellt die Bestimmtheit ihres Seins in der äußeren Wirklichkeit dar. So bewährt sich die Seele als eine Macht, die über ihre unmittelbaren Grenzen hinauswirkt. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß im Handeln und durch dasselbe die unsichtbare Welt der Seele sich nicht nur offenbart, sondern auch neue Elemente in sich aufnimmt. Handelnd und wirkend reizt sie die Außenwelt, sich zu erschließen und in neue Beziehungen zu ihr zu treten. Freilich fragt es sich, sowohl ob wir in unserm Thun eine Richtung einschlagen, die geeignet ist, ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/541>, abgerufen am 23.07.2024.