Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.oder sie erschüttern oft die Pfeiler und Mauern des heiligen Tempels mit den Wer die Bewohner der entfernteren Thäler in ihren Trachten sehen will, Was die Kleidung anlangt, so beginnt allerdings die bunte Mannigfaltig¬ oder sie erschüttern oft die Pfeiler und Mauern des heiligen Tempels mit den Wer die Bewohner der entfernteren Thäler in ihren Trachten sehen will, Was die Kleidung anlangt, so beginnt allerdings die bunte Mannigfaltig¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146459"/> <p xml:id="ID_1544" prev="#ID_1543"> oder sie erschüttern oft die Pfeiler und Mauern des heiligen Tempels mit den<lb/> schreiendsten Tönen. Frauen und Mädchen, welche Musik verstehen und das<lb/> Clcwier spielen, würde man kaum zwanzig im ganzen Canton finden." Der<lb/> Sinn für Musik scheint also entweder nnr in geringen: Maße vorhanden oder<lb/> noch nicht geweckt zu sein, während dagegen in der Malerei, der Sculptur und<lb/> besonders in der Baukunst die Tessiner Bedeutendes leisten und geleistet haben.<lb/> Musikschene Großstädter, denen aus jedem Fenster ein gequältes Clavier ent¬<lb/> gegenstöhnt, würden demnach im Tessin ein freundliches, ruheversprechendes<lb/> Asyl finden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1545"> Wer die Bewohner der entfernteren Thäler in ihren Trachten sehen will,<lb/> muß am Markttage zugegen sein, der in Lugano am Dienstag, in Loearno jeden<lb/> zweiten Donnerstag abgehalten wird. Der Markt von Loearno ist uralt, da er<lb/> nach Lavizzari schou in einer Urkunde vom Jahre 879 erwähnt wird. Hier<lb/> versammeln sich am genannten Tage die Männer und Frauen aus dein ganzen<lb/> Tessin sowie aus den benachbarten Thälern des Misox und Piemont im Früh¬<lb/> ling und Herbst und bringen ihre Erzeugnisse: Getreide, Fleisch, Wildpret,<lb/> Fische und einzelne Industrie-Artikel zum Verkauf. Unter letzteren spielen die<lb/> Strohhüte aus der Val Onsernone eine große Rolle, mit deren Herstellung sich<lb/> lediglich die Frauen dieses Thales beschäftigen. Bonstetteus Schilderung dieser<lb/> Zustände kann auch heute noch als zutreffend bezeichnet werden: „Wir sehen,"<lb/> schreibt er, „auf der Straße Weiber aus dem Onsernonethal, ohne Schuhe, in<lb/> rothen Röcken, unten mit einem blauen Bord geziert, nach Loearno gehen, um<lb/> Brot zu kaufen. Jedes Thal hat in diesen italienischen Bergen seine Sitten,<lb/> seine Sprache und seine eigene Kleidung. In Onsernone flechten alle Weiber<lb/> Strohbäuder; sie flechten, wenn sie gehen und stehen, sie flechten in der Ge¬<lb/> richtsstube, vor dem Landvogt, in der Kirche, und in den langen Winterabenden<lb/> flechten sie ohne Licht im Bett. Man versichert mich, daß sie schlafend noch<lb/> flechten. Durch diese Angewöhnung, die ihnen zur Natur geworden, gewinnt<lb/> das Thal jährlich 120 bis 150 Tausend Lire an Strohhüten, womit es einen<lb/> großen Theil der Lombardei versieht. Sie lassen ihre Roggenfelder nie reifen<lb/> und säen nur, um gutes Stroh für ihre Hüte zu haben."</p><lb/> <p xml:id="ID_1546" next="#ID_1547"> Was die Kleidung anlangt, so beginnt allerdings die bunte Mannigfaltig¬<lb/> keit der stillen Thäler der nivellirenden Thätigkeit der Mode allmählich zu<lb/> welchen; indeß wenn anch an Stelle der als höchst eigenthümlich geschilderten<lb/> Trachten modernere Formen getreten sind, so ist doch dieser Proceß noch nicht<lb/> soweit vorgeschritten, daß nicht ein Liebhaber von solchen Dingen noch vielerlei<lb/> Besonderheiten hier finden könnte. Vor einigen Jahrzehnten sah man noch<lb/> Männer aus dem Vergasea-Thale mit selbstgemachten Hosen aus rauhen Ziegen-<lb/> fetten, an deren Stelle sie in früherer Zeit Bären- lind Wolfsfelle getragen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0530]
oder sie erschüttern oft die Pfeiler und Mauern des heiligen Tempels mit den
schreiendsten Tönen. Frauen und Mädchen, welche Musik verstehen und das
Clcwier spielen, würde man kaum zwanzig im ganzen Canton finden." Der
Sinn für Musik scheint also entweder nnr in geringen: Maße vorhanden oder
noch nicht geweckt zu sein, während dagegen in der Malerei, der Sculptur und
besonders in der Baukunst die Tessiner Bedeutendes leisten und geleistet haben.
Musikschene Großstädter, denen aus jedem Fenster ein gequältes Clavier ent¬
gegenstöhnt, würden demnach im Tessin ein freundliches, ruheversprechendes
Asyl finden.
Wer die Bewohner der entfernteren Thäler in ihren Trachten sehen will,
muß am Markttage zugegen sein, der in Lugano am Dienstag, in Loearno jeden
zweiten Donnerstag abgehalten wird. Der Markt von Loearno ist uralt, da er
nach Lavizzari schou in einer Urkunde vom Jahre 879 erwähnt wird. Hier
versammeln sich am genannten Tage die Männer und Frauen aus dein ganzen
Tessin sowie aus den benachbarten Thälern des Misox und Piemont im Früh¬
ling und Herbst und bringen ihre Erzeugnisse: Getreide, Fleisch, Wildpret,
Fische und einzelne Industrie-Artikel zum Verkauf. Unter letzteren spielen die
Strohhüte aus der Val Onsernone eine große Rolle, mit deren Herstellung sich
lediglich die Frauen dieses Thales beschäftigen. Bonstetteus Schilderung dieser
Zustände kann auch heute noch als zutreffend bezeichnet werden: „Wir sehen,"
schreibt er, „auf der Straße Weiber aus dem Onsernonethal, ohne Schuhe, in
rothen Röcken, unten mit einem blauen Bord geziert, nach Loearno gehen, um
Brot zu kaufen. Jedes Thal hat in diesen italienischen Bergen seine Sitten,
seine Sprache und seine eigene Kleidung. In Onsernone flechten alle Weiber
Strohbäuder; sie flechten, wenn sie gehen und stehen, sie flechten in der Ge¬
richtsstube, vor dem Landvogt, in der Kirche, und in den langen Winterabenden
flechten sie ohne Licht im Bett. Man versichert mich, daß sie schlafend noch
flechten. Durch diese Angewöhnung, die ihnen zur Natur geworden, gewinnt
das Thal jährlich 120 bis 150 Tausend Lire an Strohhüten, womit es einen
großen Theil der Lombardei versieht. Sie lassen ihre Roggenfelder nie reifen
und säen nur, um gutes Stroh für ihre Hüte zu haben."
Was die Kleidung anlangt, so beginnt allerdings die bunte Mannigfaltig¬
keit der stillen Thäler der nivellirenden Thätigkeit der Mode allmählich zu
welchen; indeß wenn anch an Stelle der als höchst eigenthümlich geschilderten
Trachten modernere Formen getreten sind, so ist doch dieser Proceß noch nicht
soweit vorgeschritten, daß nicht ein Liebhaber von solchen Dingen noch vielerlei
Besonderheiten hier finden könnte. Vor einigen Jahrzehnten sah man noch
Männer aus dem Vergasea-Thale mit selbstgemachten Hosen aus rauhen Ziegen-
fetten, an deren Stelle sie in früherer Zeit Bären- lind Wolfsfelle getragen
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