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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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stimunmg darüber kein Hehl. "Wie unheilbringend ist es," ruft z. B. Franseini
aus, "daß wir drei sogenannte Hauptstädte haben statt einer einzigen, wahren
und würdigen, bedeutend durch Einwohnerzahl, Bildung, fördernde Einrichtungen,
Reichthum, Gemeingeist!"

Der gegenwärtige Vorort des Cantons, Locarno, liegt in einer freundlichen
Landschaft und ist genügend gegen die rauhen Nordwinde geschützt. Mildes
Klima, früh eintretender Frühling bilden seine Lichtseiten, sumpfiger Boden mit
Malaria im Gefolge seine Schattenseite. Die Ursache dieses Uebels, die Allu-
vionen der Maggia, schieben das Gestade immer weiter in den See vor und
entfernen zugleich allmählich die Stadt von ihm. Unter ihren 2667 Einwohnern
befindet sich (außer 10 Juden) ein einziger Protestant (!), der letzte Rest einer ehe¬
maligen protestantischen Colonie, die im 16. Jahrhunderte nach harten Drangsalen
zur Auswanderung gezwungen wurde. Die Emigranten wurden damals in
Zürich gastlich aufgenommen und legten den Grund zu der blühenden Seiden-
indilstrie dieser Stadt; es waren Familien unter ihnen, die unter den Patriciern
jener Zeit einen Rang einnahmen, wie die Orelli und Muralt. Die Heimat
des 1849 gestorbenen namhaften Philologen Johann Caspar Orelli ist also
strenggenommen das kleine Loearno. (Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß
die Familie der Pestalozzi nicht, wie man gewöhnlich annimmt, aus Locarno
stammt, sondern aus Chiavenna eingewandert ist.) Die religiöse Unduldsamkeit
untergrub die ehemals hier blühende Seidenindustrie, und es ist den Locarnesen
nie wieder gelungen, sie zu neuem Leben zu erwecken oder eine andere Industrie
einzuführen. Die Männer verbringen ihre Zeit mit Umherstehen und Discutiren
oder sitzen in den Cafes, die Frauen sind außerordentlich fleißige Kirchen-
besucherinnen. Ob die Vollendung der Gotthardbahn den so vielfach erhofften
Aufschwung des öffentlichen Lebens bringen wird, erscheint unter solchen Um¬
ständen fraglich.

Daß die Tessiner der Musik sehr abhold sind, sällt gewiß umsomehr auf,
als die italienische Sprache alle Vorbedingungen wenigstens für den Gesang in
sich trägt. Aber die Thatsache ist nicht zu leugnen. Selbst in den rauhen
unwirthlichen Urcantouen der Schweiz findet die Musik eine eifrigere und liebe¬
vollere Pflege als in dem sonnigen Tessin. Der schon erwähnte Franscini suchte
die Ursache dieses Mangels neben einer großen Gleichgiltigkeit in den klein¬
städtischen Vorurtheilen, dem Neid und der Eifersucht, die es verhindern, daß
sich größere Gesellschaften zur Aufführung bedeutenderer Musikwerke bilden.
"In unsern Kirchen," sagt er, "singen sowohl Männer als Frauen, allein fast
allenthalben ohne den geringsten Anstrich von wohlverstandenen, fürs Volk
geeignetem Gesang. In den Kirchen sieht man da und dort Orgeln, allein sie
schweigen entweder fast das ganze Jahr hindurch aus Mangel an einem Spieler,


Grmzbowi I. 1880. 66

stimunmg darüber kein Hehl. „Wie unheilbringend ist es," ruft z. B. Franseini
aus, „daß wir drei sogenannte Hauptstädte haben statt einer einzigen, wahren
und würdigen, bedeutend durch Einwohnerzahl, Bildung, fördernde Einrichtungen,
Reichthum, Gemeingeist!"

Der gegenwärtige Vorort des Cantons, Locarno, liegt in einer freundlichen
Landschaft und ist genügend gegen die rauhen Nordwinde geschützt. Mildes
Klima, früh eintretender Frühling bilden seine Lichtseiten, sumpfiger Boden mit
Malaria im Gefolge seine Schattenseite. Die Ursache dieses Uebels, die Allu-
vionen der Maggia, schieben das Gestade immer weiter in den See vor und
entfernen zugleich allmählich die Stadt von ihm. Unter ihren 2667 Einwohnern
befindet sich (außer 10 Juden) ein einziger Protestant (!), der letzte Rest einer ehe¬
maligen protestantischen Colonie, die im 16. Jahrhunderte nach harten Drangsalen
zur Auswanderung gezwungen wurde. Die Emigranten wurden damals in
Zürich gastlich aufgenommen und legten den Grund zu der blühenden Seiden-
indilstrie dieser Stadt; es waren Familien unter ihnen, die unter den Patriciern
jener Zeit einen Rang einnahmen, wie die Orelli und Muralt. Die Heimat
des 1849 gestorbenen namhaften Philologen Johann Caspar Orelli ist also
strenggenommen das kleine Loearno. (Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß
die Familie der Pestalozzi nicht, wie man gewöhnlich annimmt, aus Locarno
stammt, sondern aus Chiavenna eingewandert ist.) Die religiöse Unduldsamkeit
untergrub die ehemals hier blühende Seidenindustrie, und es ist den Locarnesen
nie wieder gelungen, sie zu neuem Leben zu erwecken oder eine andere Industrie
einzuführen. Die Männer verbringen ihre Zeit mit Umherstehen und Discutiren
oder sitzen in den Cafes, die Frauen sind außerordentlich fleißige Kirchen-
besucherinnen. Ob die Vollendung der Gotthardbahn den so vielfach erhofften
Aufschwung des öffentlichen Lebens bringen wird, erscheint unter solchen Um¬
ständen fraglich.

Daß die Tessiner der Musik sehr abhold sind, sällt gewiß umsomehr auf,
als die italienische Sprache alle Vorbedingungen wenigstens für den Gesang in
sich trägt. Aber die Thatsache ist nicht zu leugnen. Selbst in den rauhen
unwirthlichen Urcantouen der Schweiz findet die Musik eine eifrigere und liebe¬
vollere Pflege als in dem sonnigen Tessin. Der schon erwähnte Franscini suchte
die Ursache dieses Mangels neben einer großen Gleichgiltigkeit in den klein¬
städtischen Vorurtheilen, dem Neid und der Eifersucht, die es verhindern, daß
sich größere Gesellschaften zur Aufführung bedeutenderer Musikwerke bilden.
„In unsern Kirchen," sagt er, „singen sowohl Männer als Frauen, allein fast
allenthalben ohne den geringsten Anstrich von wohlverstandenen, fürs Volk
geeignetem Gesang. In den Kirchen sieht man da und dort Orgeln, allein sie
schweigen entweder fast das ganze Jahr hindurch aus Mangel an einem Spieler,


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[0529] stimunmg darüber kein Hehl. „Wie unheilbringend ist es," ruft z. B. Franseini aus, „daß wir drei sogenannte Hauptstädte haben statt einer einzigen, wahren und würdigen, bedeutend durch Einwohnerzahl, Bildung, fördernde Einrichtungen, Reichthum, Gemeingeist!" Der gegenwärtige Vorort des Cantons, Locarno, liegt in einer freundlichen Landschaft und ist genügend gegen die rauhen Nordwinde geschützt. Mildes Klima, früh eintretender Frühling bilden seine Lichtseiten, sumpfiger Boden mit Malaria im Gefolge seine Schattenseite. Die Ursache dieses Uebels, die Allu- vionen der Maggia, schieben das Gestade immer weiter in den See vor und entfernen zugleich allmählich die Stadt von ihm. Unter ihren 2667 Einwohnern befindet sich (außer 10 Juden) ein einziger Protestant (!), der letzte Rest einer ehe¬ maligen protestantischen Colonie, die im 16. Jahrhunderte nach harten Drangsalen zur Auswanderung gezwungen wurde. Die Emigranten wurden damals in Zürich gastlich aufgenommen und legten den Grund zu der blühenden Seiden- indilstrie dieser Stadt; es waren Familien unter ihnen, die unter den Patriciern jener Zeit einen Rang einnahmen, wie die Orelli und Muralt. Die Heimat des 1849 gestorbenen namhaften Philologen Johann Caspar Orelli ist also strenggenommen das kleine Loearno. (Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß die Familie der Pestalozzi nicht, wie man gewöhnlich annimmt, aus Locarno stammt, sondern aus Chiavenna eingewandert ist.) Die religiöse Unduldsamkeit untergrub die ehemals hier blühende Seidenindustrie, und es ist den Locarnesen nie wieder gelungen, sie zu neuem Leben zu erwecken oder eine andere Industrie einzuführen. Die Männer verbringen ihre Zeit mit Umherstehen und Discutiren oder sitzen in den Cafes, die Frauen sind außerordentlich fleißige Kirchen- besucherinnen. Ob die Vollendung der Gotthardbahn den so vielfach erhofften Aufschwung des öffentlichen Lebens bringen wird, erscheint unter solchen Um¬ ständen fraglich. Daß die Tessiner der Musik sehr abhold sind, sällt gewiß umsomehr auf, als die italienische Sprache alle Vorbedingungen wenigstens für den Gesang in sich trägt. Aber die Thatsache ist nicht zu leugnen. Selbst in den rauhen unwirthlichen Urcantouen der Schweiz findet die Musik eine eifrigere und liebe¬ vollere Pflege als in dem sonnigen Tessin. Der schon erwähnte Franscini suchte die Ursache dieses Mangels neben einer großen Gleichgiltigkeit in den klein¬ städtischen Vorurtheilen, dem Neid und der Eifersucht, die es verhindern, daß sich größere Gesellschaften zur Aufführung bedeutenderer Musikwerke bilden. „In unsern Kirchen," sagt er, „singen sowohl Männer als Frauen, allein fast allenthalben ohne den geringsten Anstrich von wohlverstandenen, fürs Volk geeignetem Gesang. In den Kirchen sieht man da und dort Orgeln, allein sie schweigen entweder fast das ganze Jahr hindurch aus Mangel an einem Spieler, Grmzbowi I. 1880. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/529>, abgerufen am 23.07.2024.