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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Castellen, mit ihren langen, über steile Felsen gezogenen Mauern und den: hes-
perischen Alpenhimmel, wo die Cicade schrille und Wasser, Luft und Erde Leben
athmen, entgegen. Da fällt ihm zum ersten Male in dieser ersten italienischen
Stadt der Contrast zwischen der paradiesischen Natur und dein unparadiesischen
Menschengeschlecht ans, bei dem alles von Leidenschaft und Unordnung spricht,
und wo die nordische Vernunft allenthalben vermißt wird."

Die drei eben erwähnten Castelle, die jetzt natürlich keine Bedeutung mehr
haben, geben der Stadt ein kriegerisches Ansehen und erinnern an ihre mili¬
tärische Wichtigkeit als Hüterin der Zugänge zum Gotthard, Bernardin und
Splügen. Jede der drei Urccmtone, in deren Schutz sich diese Landschaften im
Jahre 1500 gestellt hatten, hielt eines derselben besetzt, Uri das Vastsllo xrxmclß,
Schwyz das (^stello aus Mi??c>, Unterwalden das O^tsllo Ovrdg.rio. Noch am
Ende des vorigen Jahrhunderts wurde eines derselben von einem Castellan
nebst vier Soldaten behütet, die einen körperlichen Eid ablegen mußten, das
Schloß wohl bewahren zu wollen, zugleich aber 200 Gulden Bürgschaft für
etwaigen Schaden zu stellen hatten. Die totale Umgestaltung, welche die Schweiz
durch Napoleon erfuhr, machte auch diesen zur Ironie herausfordernden Zu¬
ständen ein Ende. Aus dem OastsUc" ok>rdg.rin> sollte übrigens im Hinblick auf
den steigenden Fremdenverkehr ein Hotel in großartigem Stile angelegt werden,
und man hatte bereits den Bau einer dahin führenden Kunststraße begonnen;
indeß, die Sache ist ins Stocken gerathen, und man muß abwarten, ob die
Vollendung der Gotthardbahn sie wieder in Gang bringen wird. Man wird
bei dieser Gelegenheit an das Urtheil erinnert, das Schinz über die "Gemüths¬
art" der welschen Schweizer fällte: "Sie sind scharfsinnig und voll großer
Anlagen, thätig, aber ungeduldig, kühn und vordringend, aber nicht ausdauernd,
sie schmiegen sich nicht gern in die dauernden, langwierigen Arbeiten, wenn nicht
öftere Abänderungen dabei vorkommen, daher sie zum Fabrikwesen weder Ge-
schicklichkeit noch Lust haben. Langanhaltende Kopsarbeiten, sitzendes Leben der
Studirenden und Gelehrten ist ihnen zuwider. Sie unternehmen gern große
Dinge, zu deren Ausführung sie nicht Geduld genug haben, und die ihr Ver¬
mögen weit übersteigen. Sie machen Pläne und befolgen sie, ohne die Kräfte
zu berechnen, die zu ihrer Ausführung nöthig sind."

Unter den Gebäuden der Stadt zieht der ?küg,W0 Aovsrnativo mit seinem
volltönenden Namen die Aufmerksamkeit zunächst auf sich; doch beherbergt er zur
Zeit nicht die Regierung, denn nach der Verfassung des Cantons von 1830
wechselt der Vorort alle sechs Jahre zwischen Bellinzona, Lugano und Locarno
ab, und seit 1875 ist Locarno an der Reihe. Wie unerquicklich und kostspielig
diese Einrichtung für den Canton ist, fühlen diejenigen Tessiner, die von dem
eifersüchtigen Loccilgeist sich frei halten, sehr wohl und machen aus ihrer Miß-


Castellen, mit ihren langen, über steile Felsen gezogenen Mauern und den: hes-
perischen Alpenhimmel, wo die Cicade schrille und Wasser, Luft und Erde Leben
athmen, entgegen. Da fällt ihm zum ersten Male in dieser ersten italienischen
Stadt der Contrast zwischen der paradiesischen Natur und dein unparadiesischen
Menschengeschlecht ans, bei dem alles von Leidenschaft und Unordnung spricht,
und wo die nordische Vernunft allenthalben vermißt wird."

Die drei eben erwähnten Castelle, die jetzt natürlich keine Bedeutung mehr
haben, geben der Stadt ein kriegerisches Ansehen und erinnern an ihre mili¬
tärische Wichtigkeit als Hüterin der Zugänge zum Gotthard, Bernardin und
Splügen. Jede der drei Urccmtone, in deren Schutz sich diese Landschaften im
Jahre 1500 gestellt hatten, hielt eines derselben besetzt, Uri das Vastsllo xrxmclß,
Schwyz das (^stello aus Mi??c>, Unterwalden das O^tsllo Ovrdg.rio. Noch am
Ende des vorigen Jahrhunderts wurde eines derselben von einem Castellan
nebst vier Soldaten behütet, die einen körperlichen Eid ablegen mußten, das
Schloß wohl bewahren zu wollen, zugleich aber 200 Gulden Bürgschaft für
etwaigen Schaden zu stellen hatten. Die totale Umgestaltung, welche die Schweiz
durch Napoleon erfuhr, machte auch diesen zur Ironie herausfordernden Zu¬
ständen ein Ende. Aus dem OastsUc» ok>rdg.rin> sollte übrigens im Hinblick auf
den steigenden Fremdenverkehr ein Hotel in großartigem Stile angelegt werden,
und man hatte bereits den Bau einer dahin führenden Kunststraße begonnen;
indeß, die Sache ist ins Stocken gerathen, und man muß abwarten, ob die
Vollendung der Gotthardbahn sie wieder in Gang bringen wird. Man wird
bei dieser Gelegenheit an das Urtheil erinnert, das Schinz über die „Gemüths¬
art" der welschen Schweizer fällte: „Sie sind scharfsinnig und voll großer
Anlagen, thätig, aber ungeduldig, kühn und vordringend, aber nicht ausdauernd,
sie schmiegen sich nicht gern in die dauernden, langwierigen Arbeiten, wenn nicht
öftere Abänderungen dabei vorkommen, daher sie zum Fabrikwesen weder Ge-
schicklichkeit noch Lust haben. Langanhaltende Kopsarbeiten, sitzendes Leben der
Studirenden und Gelehrten ist ihnen zuwider. Sie unternehmen gern große
Dinge, zu deren Ausführung sie nicht Geduld genug haben, und die ihr Ver¬
mögen weit übersteigen. Sie machen Pläne und befolgen sie, ohne die Kräfte
zu berechnen, die zu ihrer Ausführung nöthig sind."

Unter den Gebäuden der Stadt zieht der ?küg,W0 Aovsrnativo mit seinem
volltönenden Namen die Aufmerksamkeit zunächst auf sich; doch beherbergt er zur
Zeit nicht die Regierung, denn nach der Verfassung des Cantons von 1830
wechselt der Vorort alle sechs Jahre zwischen Bellinzona, Lugano und Locarno
ab, und seit 1875 ist Locarno an der Reihe. Wie unerquicklich und kostspielig
diese Einrichtung für den Canton ist, fühlen diejenigen Tessiner, die von dem
eifersüchtigen Loccilgeist sich frei halten, sehr wohl und machen aus ihrer Miß-


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[0528] Castellen, mit ihren langen, über steile Felsen gezogenen Mauern und den: hes- perischen Alpenhimmel, wo die Cicade schrille und Wasser, Luft und Erde Leben athmen, entgegen. Da fällt ihm zum ersten Male in dieser ersten italienischen Stadt der Contrast zwischen der paradiesischen Natur und dein unparadiesischen Menschengeschlecht ans, bei dem alles von Leidenschaft und Unordnung spricht, und wo die nordische Vernunft allenthalben vermißt wird." Die drei eben erwähnten Castelle, die jetzt natürlich keine Bedeutung mehr haben, geben der Stadt ein kriegerisches Ansehen und erinnern an ihre mili¬ tärische Wichtigkeit als Hüterin der Zugänge zum Gotthard, Bernardin und Splügen. Jede der drei Urccmtone, in deren Schutz sich diese Landschaften im Jahre 1500 gestellt hatten, hielt eines derselben besetzt, Uri das Vastsllo xrxmclß, Schwyz das (^stello aus Mi??c>, Unterwalden das O^tsllo Ovrdg.rio. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde eines derselben von einem Castellan nebst vier Soldaten behütet, die einen körperlichen Eid ablegen mußten, das Schloß wohl bewahren zu wollen, zugleich aber 200 Gulden Bürgschaft für etwaigen Schaden zu stellen hatten. Die totale Umgestaltung, welche die Schweiz durch Napoleon erfuhr, machte auch diesen zur Ironie herausfordernden Zu¬ ständen ein Ende. Aus dem OastsUc» ok>rdg.rin> sollte übrigens im Hinblick auf den steigenden Fremdenverkehr ein Hotel in großartigem Stile angelegt werden, und man hatte bereits den Bau einer dahin führenden Kunststraße begonnen; indeß, die Sache ist ins Stocken gerathen, und man muß abwarten, ob die Vollendung der Gotthardbahn sie wieder in Gang bringen wird. Man wird bei dieser Gelegenheit an das Urtheil erinnert, das Schinz über die „Gemüths¬ art" der welschen Schweizer fällte: „Sie sind scharfsinnig und voll großer Anlagen, thätig, aber ungeduldig, kühn und vordringend, aber nicht ausdauernd, sie schmiegen sich nicht gern in die dauernden, langwierigen Arbeiten, wenn nicht öftere Abänderungen dabei vorkommen, daher sie zum Fabrikwesen weder Ge- schicklichkeit noch Lust haben. Langanhaltende Kopsarbeiten, sitzendes Leben der Studirenden und Gelehrten ist ihnen zuwider. Sie unternehmen gern große Dinge, zu deren Ausführung sie nicht Geduld genug haben, und die ihr Ver¬ mögen weit übersteigen. Sie machen Pläne und befolgen sie, ohne die Kräfte zu berechnen, die zu ihrer Ausführung nöthig sind." Unter den Gebäuden der Stadt zieht der ?küg,W0 Aovsrnativo mit seinem volltönenden Namen die Aufmerksamkeit zunächst auf sich; doch beherbergt er zur Zeit nicht die Regierung, denn nach der Verfassung des Cantons von 1830 wechselt der Vorort alle sechs Jahre zwischen Bellinzona, Lugano und Locarno ab, und seit 1875 ist Locarno an der Reihe. Wie unerquicklich und kostspielig diese Einrichtung für den Canton ist, fühlen diejenigen Tessiner, die von dem eifersüchtigen Loccilgeist sich frei halten, sehr wohl und machen aus ihrer Miß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/528>, abgerufen am 25.08.2024.