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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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die öffentliche Meinung ihr sittliches Urtheil mit der Auffassung der Ereignisse,
indem sie entsprechend ihrer Sympathie und Antipathie auch Licht und Schatten
vertheilt, ihre Lieblinge erhöht, ihre Gegner aber herunterzieht und der Ver¬
achtung und dem Abscheu preisgiebt. Und dieses Wuchern der Mhthenbildnng
ist nicht etwa erst das Resultat einer späteren Zeit, nein, es beginnt mit dem
ersten Bekanntwerden des Ereignisses selber, und im Verhältniß zur Entfernung
wächst auch das leichtmaschige Gewebe dieser aus den verschiedensten Stoffen
gesponnenen Dichtung.

Gerade zur Zeit des 30jährigen Krieges stand diese Mythenbildung in
reichster Blüthe. Die Literatur der Flugschriften aus dieser Zeit hat einen
staunenswerthen Umfang; es giebt kein Ereignis; des großen Krieges von irgend
welcher Bedeutung, über welches nicht eine ganze Reihe von Flugschriften in
die Welt hinausgeschickt worden wäre. Seit der Zeit, da Luthers Thesen und
seine nationalen Reforinatiousschriften in wenigen Monaten sich über ganz
Deutschland verbreiteten, war dieser Weg der beliebteste und darum auch der
sicherste, in irgend einer Hinsicht auf die öffentliche Meinung einzuwirken, sei
es, daß es galt, für gewisse Anschauungen oder Tendenzen Propaganda zu
machen, sei es, daß es im Interesse der leitenden Persönlichkeiten stand, das
Urtheil über ein bestimmtes Ereigniß zu beeinflussen, die Schuld von sich ab¬
zuwälzen und die Verantwortlichkeit dafür der Gegenpartei in die Schuhe zu
schieben. So mischte sich denn mit der naive" Auffassung solcher, welche die
großen Haupt- und Staatsactionen einfach und unverfälscht einem größeren
Publikum zu übermitteln trachteten, zugleich auch die tendenziöse Darstellung
solcher, welche im eignen Interesse oder im Auftrage andrer oder endlich zu
Gunsten einer ganzen Parteirichtung auf die Beurtheilung einzelner Ereignisse
einzuwirken suchten.

Man staunt über die Fülle von Stoff dieser Gattung, welchen die Hand
des Forschers theils aus den Bibliotheken, theils aus deu Archiven der ver¬
schiedenen Staaten hervorgezogen hat. Erst der neuere" oder vielmehr erst der
neuesten Zeit blieb es vorbehalten, in dieses Gewirr Licht und Ordnung zu
bringen, indem man sich nicht damit begnügte, die einzelnen Berichte und Dar¬
stellungen einfach wiederzugeben oder nur mit einander zu vergleichen und dann
zusammenzustellen, sondern indem man historische Kritik anwandte und jeder
solchen Aeußerung einer privaten oder öffentlichen Meinung bis auf den Grund
zu schauen und die Tendenz zu ergründen suchte, melche der Verfasser hatte,
als er in dieser oder jener Weise, zu Gunsten seiner Partei oder zum Schaden
seiner Gegner, irgend ein Ereigniß des wechselvollen Krieges besprach. Auch
das neueste Werk über die Zerstörung Magdeburgs vou Prof. Karl Wittich in Jena
zeigt uns, wie verschieden die Ansichten waren, welche unmittelbar nach dieser


die öffentliche Meinung ihr sittliches Urtheil mit der Auffassung der Ereignisse,
indem sie entsprechend ihrer Sympathie und Antipathie auch Licht und Schatten
vertheilt, ihre Lieblinge erhöht, ihre Gegner aber herunterzieht und der Ver¬
achtung und dem Abscheu preisgiebt. Und dieses Wuchern der Mhthenbildnng
ist nicht etwa erst das Resultat einer späteren Zeit, nein, es beginnt mit dem
ersten Bekanntwerden des Ereignisses selber, und im Verhältniß zur Entfernung
wächst auch das leichtmaschige Gewebe dieser aus den verschiedensten Stoffen
gesponnenen Dichtung.

Gerade zur Zeit des 30jährigen Krieges stand diese Mythenbildung in
reichster Blüthe. Die Literatur der Flugschriften aus dieser Zeit hat einen
staunenswerthen Umfang; es giebt kein Ereignis; des großen Krieges von irgend
welcher Bedeutung, über welches nicht eine ganze Reihe von Flugschriften in
die Welt hinausgeschickt worden wäre. Seit der Zeit, da Luthers Thesen und
seine nationalen Reforinatiousschriften in wenigen Monaten sich über ganz
Deutschland verbreiteten, war dieser Weg der beliebteste und darum auch der
sicherste, in irgend einer Hinsicht auf die öffentliche Meinung einzuwirken, sei
es, daß es galt, für gewisse Anschauungen oder Tendenzen Propaganda zu
machen, sei es, daß es im Interesse der leitenden Persönlichkeiten stand, das
Urtheil über ein bestimmtes Ereigniß zu beeinflussen, die Schuld von sich ab¬
zuwälzen und die Verantwortlichkeit dafür der Gegenpartei in die Schuhe zu
schieben. So mischte sich denn mit der naive» Auffassung solcher, welche die
großen Haupt- und Staatsactionen einfach und unverfälscht einem größeren
Publikum zu übermitteln trachteten, zugleich auch die tendenziöse Darstellung
solcher, welche im eignen Interesse oder im Auftrage andrer oder endlich zu
Gunsten einer ganzen Parteirichtung auf die Beurtheilung einzelner Ereignisse
einzuwirken suchten.

Man staunt über die Fülle von Stoff dieser Gattung, welchen die Hand
des Forschers theils aus den Bibliotheken, theils aus deu Archiven der ver¬
schiedenen Staaten hervorgezogen hat. Erst der neuere» oder vielmehr erst der
neuesten Zeit blieb es vorbehalten, in dieses Gewirr Licht und Ordnung zu
bringen, indem man sich nicht damit begnügte, die einzelnen Berichte und Dar¬
stellungen einfach wiederzugeben oder nur mit einander zu vergleichen und dann
zusammenzustellen, sondern indem man historische Kritik anwandte und jeder
solchen Aeußerung einer privaten oder öffentlichen Meinung bis auf den Grund
zu schauen und die Tendenz zu ergründen suchte, melche der Verfasser hatte,
als er in dieser oder jener Weise, zu Gunsten seiner Partei oder zum Schaden
seiner Gegner, irgend ein Ereigniß des wechselvollen Krieges besprach. Auch
das neueste Werk über die Zerstörung Magdeburgs vou Prof. Karl Wittich in Jena
zeigt uns, wie verschieden die Ansichten waren, welche unmittelbar nach dieser


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[0508] die öffentliche Meinung ihr sittliches Urtheil mit der Auffassung der Ereignisse, indem sie entsprechend ihrer Sympathie und Antipathie auch Licht und Schatten vertheilt, ihre Lieblinge erhöht, ihre Gegner aber herunterzieht und der Ver¬ achtung und dem Abscheu preisgiebt. Und dieses Wuchern der Mhthenbildnng ist nicht etwa erst das Resultat einer späteren Zeit, nein, es beginnt mit dem ersten Bekanntwerden des Ereignisses selber, und im Verhältniß zur Entfernung wächst auch das leichtmaschige Gewebe dieser aus den verschiedensten Stoffen gesponnenen Dichtung. Gerade zur Zeit des 30jährigen Krieges stand diese Mythenbildung in reichster Blüthe. Die Literatur der Flugschriften aus dieser Zeit hat einen staunenswerthen Umfang; es giebt kein Ereignis; des großen Krieges von irgend welcher Bedeutung, über welches nicht eine ganze Reihe von Flugschriften in die Welt hinausgeschickt worden wäre. Seit der Zeit, da Luthers Thesen und seine nationalen Reforinatiousschriften in wenigen Monaten sich über ganz Deutschland verbreiteten, war dieser Weg der beliebteste und darum auch der sicherste, in irgend einer Hinsicht auf die öffentliche Meinung einzuwirken, sei es, daß es galt, für gewisse Anschauungen oder Tendenzen Propaganda zu machen, sei es, daß es im Interesse der leitenden Persönlichkeiten stand, das Urtheil über ein bestimmtes Ereigniß zu beeinflussen, die Schuld von sich ab¬ zuwälzen und die Verantwortlichkeit dafür der Gegenpartei in die Schuhe zu schieben. So mischte sich denn mit der naive» Auffassung solcher, welche die großen Haupt- und Staatsactionen einfach und unverfälscht einem größeren Publikum zu übermitteln trachteten, zugleich auch die tendenziöse Darstellung solcher, welche im eignen Interesse oder im Auftrage andrer oder endlich zu Gunsten einer ganzen Parteirichtung auf die Beurtheilung einzelner Ereignisse einzuwirken suchten. Man staunt über die Fülle von Stoff dieser Gattung, welchen die Hand des Forschers theils aus den Bibliotheken, theils aus deu Archiven der ver¬ schiedenen Staaten hervorgezogen hat. Erst der neuere» oder vielmehr erst der neuesten Zeit blieb es vorbehalten, in dieses Gewirr Licht und Ordnung zu bringen, indem man sich nicht damit begnügte, die einzelnen Berichte und Dar¬ stellungen einfach wiederzugeben oder nur mit einander zu vergleichen und dann zusammenzustellen, sondern indem man historische Kritik anwandte und jeder solchen Aeußerung einer privaten oder öffentlichen Meinung bis auf den Grund zu schauen und die Tendenz zu ergründen suchte, melche der Verfasser hatte, als er in dieser oder jener Weise, zu Gunsten seiner Partei oder zum Schaden seiner Gegner, irgend ein Ereigniß des wechselvollen Krieges besprach. Auch das neueste Werk über die Zerstörung Magdeburgs vou Prof. Karl Wittich in Jena zeigt uns, wie verschieden die Ansichten waren, welche unmittelbar nach dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/508>, abgerufen am 23.07.2024.