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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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wohl auch in diesen Zeilen schon genügend hervorgehoben, aber er gesteht offen ein,
daß er nicht im Stande ist, das absolut und von Grund aus Neue an Wagner
zu entdecken, was berechtigte, die Geburt der deutschen Kunst von ihm ab zu
datiren. Für alles und jedes an seinem Schaffen sind die Keime und Wurzeln,
wo nicht schon recht respectable Triebe und Blüthen bei seinen Vorgängern: Meyer¬
beer, Marschner, Weber u. s. w. nachweisbar. Wagner ist das Glück zu Theil
geworden, eine stattliche Reihe von Jahren ungeschwächt schaffen zu können;
bei der festen Richtung seines Wollens und der Energie seines Könnens hat er
selbst eine lange und sehr bemerkenswerthe Entwickelung durchgemacht, und der
Wagner von heute ist vom Wagner des "Rienzi" weit mehr verschieden als
letzterer von Meyerbeer. Gerade die Entwickelung, die er selbst genommen, sollte
doch aber die an sich selbstverständliche Wahrheit immer wieder nahe rücken,
daß er selbst nur ein Glied einer großen Entwickelung ist.

Wagner hat uoch keine Beweise gegeben, daß er auch auf dem Gebiete der
absoluten Musik vollständig Meister der Form und Herr der Mittel ist. Wir
haben keinen directen Grund, es zu bezweifeln, einzelne Anläufe zu breiterer
musikalischer Gestaltung wie in seinen Märschen, der Tannhüuser- und der
Meistersinger-Ouvertüre sind geeignet, auch für seine Befähigung in dieser Richtung
eine günstige Meinung zu erwecken. Warum schreibt er uus nicht eine Symphonie,
die seinen Gegnern die Waffen aus der Hand windet? Oder sollte noch immer die
Ueberzeugung bei ihm lebendig sein, daß die absolute Musik nicht die Musik an sich,
fondern die vom Worte losgerissene Musik ist? Die Fragen sind müßig. Eines schickt
sich nicht für alle. Wagner hat alle seine Kraft daran gesetzt, dem Worte zu
folgen und seinen Gehalt in der Musik zu vollerer Geltung zu bringen; durch
diese Concentration hat er es weiter gebracht als alle anderen, die das gleiche
anstrebten. Die Musik hat aber auch unabhängig von der Poesie ihre Existenz¬
berechtigung, ihre eigenen Bildungsgesetze, sie ist eine selbständige Kunst; nur
parteiische Verblendung oder verrannte Einseitigkeit kann das verkennen. Wein
fällt es ein, die Plastik, die Malerei für unvollkommnere Kunstgattungen zu halten
als die Mimik im Drama? Wir lassen uns die Würde der reinen Musik, die
nichts ist und nichts sein will als Musik, nicht rauben und halten die Wagnersche
Idee, daß in Beethovens neunter Symphonie die absolute Musik nach dem Worte
ringe und es endlich finde, für einen geistreichen Einfall, aber nicht für die Wahr¬
heit. Die Entstehungsgeschichte des einleitenden Baßsolo vor Eintritt des Chores
weist solche Deutungen als unzulässig ab. Die Instrumentalmusik ist trotz ihrer
herrlichen Entwicklung noch viel zu jung, als daß wir fürchten dürfen, sie schon
begraben zu müssen. Im Gegentheil. notorisch hat die Musik sich allmählich
vom Worte losgerungen (sie ist nicht davon losgerissen worden!), nachdem sie
in Verbindung mit dem Worte die ersten Stadien ihrer Entwicklung durchgemacht;


Grenzboten I. 1830. 6

wohl auch in diesen Zeilen schon genügend hervorgehoben, aber er gesteht offen ein,
daß er nicht im Stande ist, das absolut und von Grund aus Neue an Wagner
zu entdecken, was berechtigte, die Geburt der deutschen Kunst von ihm ab zu
datiren. Für alles und jedes an seinem Schaffen sind die Keime und Wurzeln,
wo nicht schon recht respectable Triebe und Blüthen bei seinen Vorgängern: Meyer¬
beer, Marschner, Weber u. s. w. nachweisbar. Wagner ist das Glück zu Theil
geworden, eine stattliche Reihe von Jahren ungeschwächt schaffen zu können;
bei der festen Richtung seines Wollens und der Energie seines Könnens hat er
selbst eine lange und sehr bemerkenswerthe Entwickelung durchgemacht, und der
Wagner von heute ist vom Wagner des „Rienzi" weit mehr verschieden als
letzterer von Meyerbeer. Gerade die Entwickelung, die er selbst genommen, sollte
doch aber die an sich selbstverständliche Wahrheit immer wieder nahe rücken,
daß er selbst nur ein Glied einer großen Entwickelung ist.

Wagner hat uoch keine Beweise gegeben, daß er auch auf dem Gebiete der
absoluten Musik vollständig Meister der Form und Herr der Mittel ist. Wir
haben keinen directen Grund, es zu bezweifeln, einzelne Anläufe zu breiterer
musikalischer Gestaltung wie in seinen Märschen, der Tannhüuser- und der
Meistersinger-Ouvertüre sind geeignet, auch für seine Befähigung in dieser Richtung
eine günstige Meinung zu erwecken. Warum schreibt er uus nicht eine Symphonie,
die seinen Gegnern die Waffen aus der Hand windet? Oder sollte noch immer die
Ueberzeugung bei ihm lebendig sein, daß die absolute Musik nicht die Musik an sich,
fondern die vom Worte losgerissene Musik ist? Die Fragen sind müßig. Eines schickt
sich nicht für alle. Wagner hat alle seine Kraft daran gesetzt, dem Worte zu
folgen und seinen Gehalt in der Musik zu vollerer Geltung zu bringen; durch
diese Concentration hat er es weiter gebracht als alle anderen, die das gleiche
anstrebten. Die Musik hat aber auch unabhängig von der Poesie ihre Existenz¬
berechtigung, ihre eigenen Bildungsgesetze, sie ist eine selbständige Kunst; nur
parteiische Verblendung oder verrannte Einseitigkeit kann das verkennen. Wein
fällt es ein, die Plastik, die Malerei für unvollkommnere Kunstgattungen zu halten
als die Mimik im Drama? Wir lassen uns die Würde der reinen Musik, die
nichts ist und nichts sein will als Musik, nicht rauben und halten die Wagnersche
Idee, daß in Beethovens neunter Symphonie die absolute Musik nach dem Worte
ringe und es endlich finde, für einen geistreichen Einfall, aber nicht für die Wahr¬
heit. Die Entstehungsgeschichte des einleitenden Baßsolo vor Eintritt des Chores
weist solche Deutungen als unzulässig ab. Die Instrumentalmusik ist trotz ihrer
herrlichen Entwicklung noch viel zu jung, als daß wir fürchten dürfen, sie schon
begraben zu müssen. Im Gegentheil. notorisch hat die Musik sich allmählich
vom Worte losgerungen (sie ist nicht davon losgerissen worden!), nachdem sie
in Verbindung mit dem Worte die ersten Stadien ihrer Entwicklung durchgemacht;


Grenzboten I. 1830. 6
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/49>, abgerufen am 23.07.2024.