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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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kann eine für den gesunden Fortschritt empfängliche Mittelklasse dort erzogen
werden? Wie so oft, liegt auch hier die ungeheure Schwierigkeit nicht in der
Auffindung, sondern in der Anwendung des Mittels. Das Heilmittel ist leicht
und sicher zu erkennen: Rußland muß den Größenwahn aufgeben, in den es
seit Peter dem Großen verfallen ist. Es muß seine Grenzen dem Handel der
civilisirten Welt öffnen und damit seinem Mittelstand die Gelegenheit ausrei¬
chenden Erwerbs und Wohlstandes, damit aber auch wirklicher Bildung schaffen,
die nur auf Arbeit beruht. Es muß die ungeheueren Heeresausgaben ermäßigen,
um dnrch Einführung einer soliden Währung den äußeren und inneren Verkehr
auf eine solide Basis zu stellen, um nicht ferner solcher Einnahmequellen zu be¬
dürfen wie der Branntweinpacht, durch welche es die Masse seiner eigenen
Kinder physisch vergiftet. Die Minderung der colossalen Heeresausgaben würde
auch die Gelegenheit zum Unterschleif seltener macheu, würde gestatten, die Ver¬
waltung zu vereinfachen und ihrer Korruption zu steuern, dnrch bessere Besol¬
dung der verkleinerten Zahl und durch wirksamere Cvntrolen, denen sich eine
kleinere Beamtenzahl unterwerfen läßt. Die Hebung des Erwerbslebens würde
auch die Schaffung einer wirksamen Selbstverwaltung gestatten, denn wo die
Gelegenheit zum redlichen Emporstreben vorhanden ist, steigert sich das Interesse
der Gesellschaft am Rechtsschutz, an rechtlicher Justiz und Verwaltung.

Wir brauchen nicht weiter fortzufahren. Niemand kann die Richtigkeit des
Receptes bezweifeln, und Niemand wird davon träumen, daß es angewendet
werden möchte. Aber daß die energische RePression mittelst der errichteten Dik¬
tatur Rußland noch einmal auf dreißig, zwanzig, selbst nur zehn Jahre in die
frühere Lethargie gegenüber seinen inneren Zuständen zurückwerfen könne, ist
bei der slawischen Natur zwar nicht unmöglich, aber doch höchst unwahrschein¬
lich. Also wird man wohl früher oder später zu dem beliebten Universalmittel
der Konstitution und des Parlamentarismus greifen. Daß dieses Mittel bei
unentwickelten Völkern, indem es allen unreifen und wüsten Bestrebungen freie
Bahn öffnet, einen langen Zustand der Verwirrung und Schwäche hervorruft,
ist zwar nicht überall begriffen, aber darum nicht weniger unvermeidlich. In¬
zwischen wollen wir nicht vergessen, daß die Pcmslawisten, um den Folgen der
Constitution zu entgehen, den Krieg mit Deutschland empfehlen, wo es "viel
anzuzünden und viel zu holen giebt" ^ .




Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grnnow in Leipzig.
Nerlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Hiithel 5 Herrmann in Leipzig-

kann eine für den gesunden Fortschritt empfängliche Mittelklasse dort erzogen
werden? Wie so oft, liegt auch hier die ungeheure Schwierigkeit nicht in der
Auffindung, sondern in der Anwendung des Mittels. Das Heilmittel ist leicht
und sicher zu erkennen: Rußland muß den Größenwahn aufgeben, in den es
seit Peter dem Großen verfallen ist. Es muß seine Grenzen dem Handel der
civilisirten Welt öffnen und damit seinem Mittelstand die Gelegenheit ausrei¬
chenden Erwerbs und Wohlstandes, damit aber auch wirklicher Bildung schaffen,
die nur auf Arbeit beruht. Es muß die ungeheueren Heeresausgaben ermäßigen,
um dnrch Einführung einer soliden Währung den äußeren und inneren Verkehr
auf eine solide Basis zu stellen, um nicht ferner solcher Einnahmequellen zu be¬
dürfen wie der Branntweinpacht, durch welche es die Masse seiner eigenen
Kinder physisch vergiftet. Die Minderung der colossalen Heeresausgaben würde
auch die Gelegenheit zum Unterschleif seltener macheu, würde gestatten, die Ver¬
waltung zu vereinfachen und ihrer Korruption zu steuern, dnrch bessere Besol¬
dung der verkleinerten Zahl und durch wirksamere Cvntrolen, denen sich eine
kleinere Beamtenzahl unterwerfen läßt. Die Hebung des Erwerbslebens würde
auch die Schaffung einer wirksamen Selbstverwaltung gestatten, denn wo die
Gelegenheit zum redlichen Emporstreben vorhanden ist, steigert sich das Interesse
der Gesellschaft am Rechtsschutz, an rechtlicher Justiz und Verwaltung.

Wir brauchen nicht weiter fortzufahren. Niemand kann die Richtigkeit des
Receptes bezweifeln, und Niemand wird davon träumen, daß es angewendet
werden möchte. Aber daß die energische RePression mittelst der errichteten Dik¬
tatur Rußland noch einmal auf dreißig, zwanzig, selbst nur zehn Jahre in die
frühere Lethargie gegenüber seinen inneren Zuständen zurückwerfen könne, ist
bei der slawischen Natur zwar nicht unmöglich, aber doch höchst unwahrschein¬
lich. Also wird man wohl früher oder später zu dem beliebten Universalmittel
der Konstitution und des Parlamentarismus greifen. Daß dieses Mittel bei
unentwickelten Völkern, indem es allen unreifen und wüsten Bestrebungen freie
Bahn öffnet, einen langen Zustand der Verwirrung und Schwäche hervorruft,
ist zwar nicht überall begriffen, aber darum nicht weniger unvermeidlich. In¬
zwischen wollen wir nicht vergessen, daß die Pcmslawisten, um den Folgen der
Constitution zu entgehen, den Krieg mit Deutschland empfehlen, wo es „viel
anzuzünden und viel zu holen giebt" ^ .




Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grnnow in Leipzig.
Nerlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hiithel 5 Herrmann in Leipzig-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/488>, abgerufen am 23.07.2024.