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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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hatte den Willen des Kaisers und den Widerstand der entgegenstehenden Denkungs-
art, die auch vorhanden ist in Rußland, noch nicht gebeugt, als mit dem Attentat
vom 1. December 1879 die Reihe jener schaudervollen Verbrechen begann, nach
deren Ende die erschreckte Menschheit vergebens fragt. Man schreibt diese Ver¬
brechen nicht dem Panslawismus, sondern seinem unheimlichen Zwillingsbruder,
dem Nihilismus, zu. Aber eigentlich ist dies nur eine Vermuthung. Wer mag
missen, ob der Panslawismus, d. h. die Kriegspartei, welche die verworrene
Phantasie der höheren und niederen Gesellschaftskreise Rußlands durch das Bild
der slawischen Welteroberung zu entflammen versucht, nicht in dem Kaiser das
Haupthinderniß ihrer Pläne erblickt und folglich seinen Tod durch verbreche-
nsche Hände bereit ist herbeizuführen oder geschehen zu lassen, auf alle Fälle
aber davon Nutzen zu ziehen.

Panslawismus und Nihilismus, das unheimliche Zwillingspaar, beschäftigen
jetzt die Diagnose aller deutschen Politiker. Man hat bald erkannt, daß man
vor Zwillingen steht, die einem und demselben mütterlichen Boden entsprossen:
dem Gefühl der Unerträglichkeit des gegenwärtigen Staates. Indem sie diesen
unerträglichen Staat auf die Bahn der Welteroberung werfen, meinen die Pan-
slawisten, diesen Staat heilen zu können, dadurch, daß neue gesunde Kräfte aus
der Nation sich emporringen, oder dadurch, daß die Herrschergröße der Nation
sie alles Unerträgliche vergessen läßt. Noch sicherer hoffen die Nihilisten den
unerträglichen Staat zu beseitigen, indem sie durch alle Mittel barbarischer Ver¬
nichtung an seine Stelle das Nichts setzen. In dem Nihilismus begegnet sich
die Blasirtheit brutaler Naturen, die eines philiströsen Lasters, wie sie es kennen,
überdrüssig sind, und die nach einem gigantischen Laster verlangen, mit dem in
wilden Haß verkehrten Idealismus solcher Naturen, denen die herrschende Ver-
derbniß nur durch die radicalste Zerstörung heilbar erscheint.

Was soll aus einem Staate werden, dem die gebildeten Klassen, die zu
seinen Trägern berufen sind, in solcher Weise gegenüberstehen? Die große Masse
der Landbevölkerung lebt freilich in fatalistischer Ehrfurcht vor dem herrschenden
Despotismus und vor der herrschenden Religion. Aber wenn man diese Masse
aufrufen wollte zur Vernichtung der Klassen, welche ihrerseits den Staat mit
alleu Mitteln der Barbarei vernichten wollen, so könnte man doch mit jener
fanatisirten, unwissenden, in ihrer aufgeregten Wildheit allen Verführungen zu¬
gänglichen und darum hilflosen Masse keine Staatsordnung aufrecht halten. Die
Möglichkeit der Regeneration und Fortentwicklung Rußlands beruht allein auf
der Gesundung der Klassen, in welchen jetzt die Herde des Verderbens liegen.
Man sucht diese Herde jetzt mit Feuer und Eisen auszurotten. Daß dies allein
nicht ausreichen kann, begreift sich ohne Widerrede. Aber wie soll die positive
Heilung der gebildeten Stände Rußlands erfolgen, mit anderen Worten: Wie


hatte den Willen des Kaisers und den Widerstand der entgegenstehenden Denkungs-
art, die auch vorhanden ist in Rußland, noch nicht gebeugt, als mit dem Attentat
vom 1. December 1879 die Reihe jener schaudervollen Verbrechen begann, nach
deren Ende die erschreckte Menschheit vergebens fragt. Man schreibt diese Ver¬
brechen nicht dem Panslawismus, sondern seinem unheimlichen Zwillingsbruder,
dem Nihilismus, zu. Aber eigentlich ist dies nur eine Vermuthung. Wer mag
missen, ob der Panslawismus, d. h. die Kriegspartei, welche die verworrene
Phantasie der höheren und niederen Gesellschaftskreise Rußlands durch das Bild
der slawischen Welteroberung zu entflammen versucht, nicht in dem Kaiser das
Haupthinderniß ihrer Pläne erblickt und folglich seinen Tod durch verbreche-
nsche Hände bereit ist herbeizuführen oder geschehen zu lassen, auf alle Fälle
aber davon Nutzen zu ziehen.

Panslawismus und Nihilismus, das unheimliche Zwillingspaar, beschäftigen
jetzt die Diagnose aller deutschen Politiker. Man hat bald erkannt, daß man
vor Zwillingen steht, die einem und demselben mütterlichen Boden entsprossen:
dem Gefühl der Unerträglichkeit des gegenwärtigen Staates. Indem sie diesen
unerträglichen Staat auf die Bahn der Welteroberung werfen, meinen die Pan-
slawisten, diesen Staat heilen zu können, dadurch, daß neue gesunde Kräfte aus
der Nation sich emporringen, oder dadurch, daß die Herrschergröße der Nation
sie alles Unerträgliche vergessen läßt. Noch sicherer hoffen die Nihilisten den
unerträglichen Staat zu beseitigen, indem sie durch alle Mittel barbarischer Ver¬
nichtung an seine Stelle das Nichts setzen. In dem Nihilismus begegnet sich
die Blasirtheit brutaler Naturen, die eines philiströsen Lasters, wie sie es kennen,
überdrüssig sind, und die nach einem gigantischen Laster verlangen, mit dem in
wilden Haß verkehrten Idealismus solcher Naturen, denen die herrschende Ver-
derbniß nur durch die radicalste Zerstörung heilbar erscheint.

Was soll aus einem Staate werden, dem die gebildeten Klassen, die zu
seinen Trägern berufen sind, in solcher Weise gegenüberstehen? Die große Masse
der Landbevölkerung lebt freilich in fatalistischer Ehrfurcht vor dem herrschenden
Despotismus und vor der herrschenden Religion. Aber wenn man diese Masse
aufrufen wollte zur Vernichtung der Klassen, welche ihrerseits den Staat mit
alleu Mitteln der Barbarei vernichten wollen, so könnte man doch mit jener
fanatisirten, unwissenden, in ihrer aufgeregten Wildheit allen Verführungen zu¬
gänglichen und darum hilflosen Masse keine Staatsordnung aufrecht halten. Die
Möglichkeit der Regeneration und Fortentwicklung Rußlands beruht allein auf
der Gesundung der Klassen, in welchen jetzt die Herde des Verderbens liegen.
Man sucht diese Herde jetzt mit Feuer und Eisen auszurotten. Daß dies allein
nicht ausreichen kann, begreift sich ohne Widerrede. Aber wie soll die positive
Heilung der gebildeten Stände Rußlands erfolgen, mit anderen Worten: Wie


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[0487] hatte den Willen des Kaisers und den Widerstand der entgegenstehenden Denkungs- art, die auch vorhanden ist in Rußland, noch nicht gebeugt, als mit dem Attentat vom 1. December 1879 die Reihe jener schaudervollen Verbrechen begann, nach deren Ende die erschreckte Menschheit vergebens fragt. Man schreibt diese Ver¬ brechen nicht dem Panslawismus, sondern seinem unheimlichen Zwillingsbruder, dem Nihilismus, zu. Aber eigentlich ist dies nur eine Vermuthung. Wer mag missen, ob der Panslawismus, d. h. die Kriegspartei, welche die verworrene Phantasie der höheren und niederen Gesellschaftskreise Rußlands durch das Bild der slawischen Welteroberung zu entflammen versucht, nicht in dem Kaiser das Haupthinderniß ihrer Pläne erblickt und folglich seinen Tod durch verbreche- nsche Hände bereit ist herbeizuführen oder geschehen zu lassen, auf alle Fälle aber davon Nutzen zu ziehen. Panslawismus und Nihilismus, das unheimliche Zwillingspaar, beschäftigen jetzt die Diagnose aller deutschen Politiker. Man hat bald erkannt, daß man vor Zwillingen steht, die einem und demselben mütterlichen Boden entsprossen: dem Gefühl der Unerträglichkeit des gegenwärtigen Staates. Indem sie diesen unerträglichen Staat auf die Bahn der Welteroberung werfen, meinen die Pan- slawisten, diesen Staat heilen zu können, dadurch, daß neue gesunde Kräfte aus der Nation sich emporringen, oder dadurch, daß die Herrschergröße der Nation sie alles Unerträgliche vergessen läßt. Noch sicherer hoffen die Nihilisten den unerträglichen Staat zu beseitigen, indem sie durch alle Mittel barbarischer Ver¬ nichtung an seine Stelle das Nichts setzen. In dem Nihilismus begegnet sich die Blasirtheit brutaler Naturen, die eines philiströsen Lasters, wie sie es kennen, überdrüssig sind, und die nach einem gigantischen Laster verlangen, mit dem in wilden Haß verkehrten Idealismus solcher Naturen, denen die herrschende Ver- derbniß nur durch die radicalste Zerstörung heilbar erscheint. Was soll aus einem Staate werden, dem die gebildeten Klassen, die zu seinen Trägern berufen sind, in solcher Weise gegenüberstehen? Die große Masse der Landbevölkerung lebt freilich in fatalistischer Ehrfurcht vor dem herrschenden Despotismus und vor der herrschenden Religion. Aber wenn man diese Masse aufrufen wollte zur Vernichtung der Klassen, welche ihrerseits den Staat mit alleu Mitteln der Barbarei vernichten wollen, so könnte man doch mit jener fanatisirten, unwissenden, in ihrer aufgeregten Wildheit allen Verführungen zu¬ gänglichen und darum hilflosen Masse keine Staatsordnung aufrecht halten. Die Möglichkeit der Regeneration und Fortentwicklung Rußlands beruht allein auf der Gesundung der Klassen, in welchen jetzt die Herde des Verderbens liegen. Man sucht diese Herde jetzt mit Feuer und Eisen auszurotten. Daß dies allein nicht ausreichen kann, begreift sich ohne Widerrede. Aber wie soll die positive Heilung der gebildeten Stände Rußlands erfolgen, mit anderen Worten: Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/487>, abgerufen am 23.07.2024.