Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

die Reise des Kronprinzen Ladislaus von Polen. Dieser unternahm mit einer
großen und glänzenden Begleitung im Jahre 1624 einen Zug über diese Straße
nach Rom, um, in Folge eines Gelübdes, eine aus Gold gegossene und mit Edel¬
steinen geschmückte Bildsäule des heiligen Ladislaus nach Loreto zu bringen.
In diesem Berichte heißt es unter anderm: "Ein wunderbares Ding ist jene
Straße, eingehauen in den hohen, unbesteigbaren Felsen, auf welchem hinziehend
man eine große Menge Wasserfälle erblickt, aus welchen dann große Ströme,
wie Rhein, Reuß und andere gebildet werden. Als wir nun, mehr zu Fuß als
reitend, über diese Berge hinzogen, gesellte sich zu uns ein großer und wohl-
gewachsener Schweizerbauer. Der erkor sich aus unserer ganzen Gesellschaft,
aus besonderem eigenen Wohlgefallen, deu Kronprinzen und führte ihn uuter
dem Arm über die wegen Eis und Schuee gefährliche" Stellen, weil es dort
mehrere gab. Der Kronprinz nahm dankbar seine Dienstfertigkeit an, die sehr
nothwendig war, und die ihm keiner der polnischen Senatoren, gewohnt, die
königlichen Herrschaften unter den Armen zu führen, hätte leisten können. Der
Prinz ließ sich auch, zu seiner nicht geringen Kurzweil, mit ihm ius Gespräch
ein, dieweil ihm der Bauer, Märchen und Wahrheit durcheinander, ein Langes
und Breites von jenen Bergen erzählte und besonders über die Krystalle, die
in denselben entstehen. Da wir noch zweimal soviel Weges über die Berge vor
uns hatten als am vergangenen Tage, und es zu Pferde nicht sehr geheuer
war, so mietheten wir uus, "ach dortiger Sitte, Tragsessel und Bauernbursche,
die uns trugen."

Als die primitive Straße dem immer mehr steigenden Bedürfniß nicht mehr
genügte und durch die Anlegung der Splügenstraße sich aller Waare"- und
Personenverkehr dahinzuziehen drohte, blieb dem Canton Uri nichts übrig, als
sich zum Bau einer fahrbaren Kunststraße zu entschließen, um nicht durch Auf¬
höre" des Durchzugs eines wichtigen Erwerbszweiges beraubt zu werden. Diese
neue Anlage entstand in den Jahren 1820--30 und verursachte dem ohnehin
nicht reichen Canton etwa eine Million Franken Unkosten. Diese Straße ist
dieselbe, welche noch gegenwärtig von der Post zwischen Bellinzona und dem
Vierwaldstättersee benutzt wird. Der eigentliche Kunstbau beginnt erst bei dem
Flecken Amsteg und führt von da durch die Schölleueu, welche Schiller die
"Schreckensstraße" nennt, über die bekannten Orte: Wasen, Göschenen, Ander¬
matt auf die Paßhöhe und von da in vielen, nicht ungefährlichen Serpentinen
uach Airolo. Göschenen, bis zum Jahre 1872 ein unbedeutender Ort von wenigen
Häusern, wurde plötzlich durch Anlage von Arbeiterhänsern und Verkaufsladen
zu einer Stadt von 2000 Bewohnern, und mit dem Tunnel selbst trug der
Telegraph seinen Namen über die ganze Erde.




die Reise des Kronprinzen Ladislaus von Polen. Dieser unternahm mit einer
großen und glänzenden Begleitung im Jahre 1624 einen Zug über diese Straße
nach Rom, um, in Folge eines Gelübdes, eine aus Gold gegossene und mit Edel¬
steinen geschmückte Bildsäule des heiligen Ladislaus nach Loreto zu bringen.
In diesem Berichte heißt es unter anderm: „Ein wunderbares Ding ist jene
Straße, eingehauen in den hohen, unbesteigbaren Felsen, auf welchem hinziehend
man eine große Menge Wasserfälle erblickt, aus welchen dann große Ströme,
wie Rhein, Reuß und andere gebildet werden. Als wir nun, mehr zu Fuß als
reitend, über diese Berge hinzogen, gesellte sich zu uns ein großer und wohl-
gewachsener Schweizerbauer. Der erkor sich aus unserer ganzen Gesellschaft,
aus besonderem eigenen Wohlgefallen, deu Kronprinzen und führte ihn uuter
dem Arm über die wegen Eis und Schuee gefährliche» Stellen, weil es dort
mehrere gab. Der Kronprinz nahm dankbar seine Dienstfertigkeit an, die sehr
nothwendig war, und die ihm keiner der polnischen Senatoren, gewohnt, die
königlichen Herrschaften unter den Armen zu führen, hätte leisten können. Der
Prinz ließ sich auch, zu seiner nicht geringen Kurzweil, mit ihm ius Gespräch
ein, dieweil ihm der Bauer, Märchen und Wahrheit durcheinander, ein Langes
und Breites von jenen Bergen erzählte und besonders über die Krystalle, die
in denselben entstehen. Da wir noch zweimal soviel Weges über die Berge vor
uns hatten als am vergangenen Tage, und es zu Pferde nicht sehr geheuer
war, so mietheten wir uus, «ach dortiger Sitte, Tragsessel und Bauernbursche,
die uns trugen."

Als die primitive Straße dem immer mehr steigenden Bedürfniß nicht mehr
genügte und durch die Anlegung der Splügenstraße sich aller Waare»- und
Personenverkehr dahinzuziehen drohte, blieb dem Canton Uri nichts übrig, als
sich zum Bau einer fahrbaren Kunststraße zu entschließen, um nicht durch Auf¬
höre» des Durchzugs eines wichtigen Erwerbszweiges beraubt zu werden. Diese
neue Anlage entstand in den Jahren 1820—30 und verursachte dem ohnehin
nicht reichen Canton etwa eine Million Franken Unkosten. Diese Straße ist
dieselbe, welche noch gegenwärtig von der Post zwischen Bellinzona und dem
Vierwaldstättersee benutzt wird. Der eigentliche Kunstbau beginnt erst bei dem
Flecken Amsteg und führt von da durch die Schölleueu, welche Schiller die
„Schreckensstraße" nennt, über die bekannten Orte: Wasen, Göschenen, Ander¬
matt auf die Paßhöhe und von da in vielen, nicht ungefährlichen Serpentinen
uach Airolo. Göschenen, bis zum Jahre 1872 ein unbedeutender Ort von wenigen
Häusern, wurde plötzlich durch Anlage von Arbeiterhänsern und Verkaufsladen
zu einer Stadt von 2000 Bewohnern, und mit dem Tunnel selbst trug der
Telegraph seinen Namen über die ganze Erde.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0485" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146414"/>
          <p xml:id="ID_1418" prev="#ID_1417"> die Reise des Kronprinzen Ladislaus von Polen. Dieser unternahm mit einer<lb/>
großen und glänzenden Begleitung im Jahre 1624 einen Zug über diese Straße<lb/>
nach Rom, um, in Folge eines Gelübdes, eine aus Gold gegossene und mit Edel¬<lb/>
steinen geschmückte Bildsäule des heiligen Ladislaus nach Loreto zu bringen.<lb/>
In diesem Berichte heißt es unter anderm: &#x201E;Ein wunderbares Ding ist jene<lb/>
Straße, eingehauen in den hohen, unbesteigbaren Felsen, auf welchem hinziehend<lb/>
man eine große Menge Wasserfälle erblickt, aus welchen dann große Ströme,<lb/>
wie Rhein, Reuß und andere gebildet werden. Als wir nun, mehr zu Fuß als<lb/>
reitend, über diese Berge hinzogen, gesellte sich zu uns ein großer und wohl-<lb/>
gewachsener Schweizerbauer. Der erkor sich aus unserer ganzen Gesellschaft,<lb/>
aus besonderem eigenen Wohlgefallen, deu Kronprinzen und führte ihn uuter<lb/>
dem Arm über die wegen Eis und Schuee gefährliche» Stellen, weil es dort<lb/>
mehrere gab. Der Kronprinz nahm dankbar seine Dienstfertigkeit an, die sehr<lb/>
nothwendig war, und die ihm keiner der polnischen Senatoren, gewohnt, die<lb/>
königlichen Herrschaften unter den Armen zu führen, hätte leisten können. Der<lb/>
Prinz ließ sich auch, zu seiner nicht geringen Kurzweil, mit ihm ius Gespräch<lb/>
ein, dieweil ihm der Bauer, Märchen und Wahrheit durcheinander, ein Langes<lb/>
und Breites von jenen Bergen erzählte und besonders über die Krystalle, die<lb/>
in denselben entstehen. Da wir noch zweimal soviel Weges über die Berge vor<lb/>
uns hatten als am vergangenen Tage, und es zu Pferde nicht sehr geheuer<lb/>
war, so mietheten wir uus, «ach dortiger Sitte, Tragsessel und Bauernbursche,<lb/>
die uns trugen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1419"> Als die primitive Straße dem immer mehr steigenden Bedürfniß nicht mehr<lb/>
genügte und durch die Anlegung der Splügenstraße sich aller Waare»- und<lb/>
Personenverkehr dahinzuziehen drohte, blieb dem Canton Uri nichts übrig, als<lb/>
sich zum Bau einer fahrbaren Kunststraße zu entschließen, um nicht durch Auf¬<lb/>
höre» des Durchzugs eines wichtigen Erwerbszweiges beraubt zu werden. Diese<lb/>
neue Anlage entstand in den Jahren 1820&#x2014;30 und verursachte dem ohnehin<lb/>
nicht reichen Canton etwa eine Million Franken Unkosten. Diese Straße ist<lb/>
dieselbe, welche noch gegenwärtig von der Post zwischen Bellinzona und dem<lb/>
Vierwaldstättersee benutzt wird. Der eigentliche Kunstbau beginnt erst bei dem<lb/>
Flecken Amsteg und führt von da durch die Schölleueu, welche Schiller die<lb/>
&#x201E;Schreckensstraße" nennt, über die bekannten Orte: Wasen, Göschenen, Ander¬<lb/>
matt auf die Paßhöhe und von da in vielen, nicht ungefährlichen Serpentinen<lb/>
uach Airolo. Göschenen, bis zum Jahre 1872 ein unbedeutender Ort von wenigen<lb/>
Häusern, wurde plötzlich durch Anlage von Arbeiterhänsern und Verkaufsladen<lb/>
zu einer Stadt von 2000 Bewohnern, und mit dem Tunnel selbst trug der<lb/>
Telegraph seinen Namen über die ganze Erde.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0485] die Reise des Kronprinzen Ladislaus von Polen. Dieser unternahm mit einer großen und glänzenden Begleitung im Jahre 1624 einen Zug über diese Straße nach Rom, um, in Folge eines Gelübdes, eine aus Gold gegossene und mit Edel¬ steinen geschmückte Bildsäule des heiligen Ladislaus nach Loreto zu bringen. In diesem Berichte heißt es unter anderm: „Ein wunderbares Ding ist jene Straße, eingehauen in den hohen, unbesteigbaren Felsen, auf welchem hinziehend man eine große Menge Wasserfälle erblickt, aus welchen dann große Ströme, wie Rhein, Reuß und andere gebildet werden. Als wir nun, mehr zu Fuß als reitend, über diese Berge hinzogen, gesellte sich zu uns ein großer und wohl- gewachsener Schweizerbauer. Der erkor sich aus unserer ganzen Gesellschaft, aus besonderem eigenen Wohlgefallen, deu Kronprinzen und führte ihn uuter dem Arm über die wegen Eis und Schuee gefährliche» Stellen, weil es dort mehrere gab. Der Kronprinz nahm dankbar seine Dienstfertigkeit an, die sehr nothwendig war, und die ihm keiner der polnischen Senatoren, gewohnt, die königlichen Herrschaften unter den Armen zu führen, hätte leisten können. Der Prinz ließ sich auch, zu seiner nicht geringen Kurzweil, mit ihm ius Gespräch ein, dieweil ihm der Bauer, Märchen und Wahrheit durcheinander, ein Langes und Breites von jenen Bergen erzählte und besonders über die Krystalle, die in denselben entstehen. Da wir noch zweimal soviel Weges über die Berge vor uns hatten als am vergangenen Tage, und es zu Pferde nicht sehr geheuer war, so mietheten wir uus, «ach dortiger Sitte, Tragsessel und Bauernbursche, die uns trugen." Als die primitive Straße dem immer mehr steigenden Bedürfniß nicht mehr genügte und durch die Anlegung der Splügenstraße sich aller Waare»- und Personenverkehr dahinzuziehen drohte, blieb dem Canton Uri nichts übrig, als sich zum Bau einer fahrbaren Kunststraße zu entschließen, um nicht durch Auf¬ höre» des Durchzugs eines wichtigen Erwerbszweiges beraubt zu werden. Diese neue Anlage entstand in den Jahren 1820—30 und verursachte dem ohnehin nicht reichen Canton etwa eine Million Franken Unkosten. Diese Straße ist dieselbe, welche noch gegenwärtig von der Post zwischen Bellinzona und dem Vierwaldstättersee benutzt wird. Der eigentliche Kunstbau beginnt erst bei dem Flecken Amsteg und führt von da durch die Schölleueu, welche Schiller die „Schreckensstraße" nennt, über die bekannten Orte: Wasen, Göschenen, Ander¬ matt auf die Paßhöhe und von da in vielen, nicht ungefährlichen Serpentinen uach Airolo. Göschenen, bis zum Jahre 1872 ein unbedeutender Ort von wenigen Häusern, wurde plötzlich durch Anlage von Arbeiterhänsern und Verkaufsladen zu einer Stadt von 2000 Bewohnern, und mit dem Tunnel selbst trug der Telegraph seinen Namen über die ganze Erde.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/485
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/485>, abgerufen am 23.07.2024.