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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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neuerer Zeit mit viel Eifer gepflegten wissenschaftlichen Alpeukunde, erwartete
in der Gegend des Gotthard ein dem Montblanc an Höhe ebenbürtiges Ge¬
birge. Eine richtigere Ansicht über das Verhältniß des ersteren zu den übrigen
Erhebungen besaß Goethe, ohne freilich die Wahrheit völlig erkannt zu haben.
"Der Gotthard," sagt er, "ist zwar nicht das höchste Gebirge der Schweiz, und
in Savoyen übertrifft der Montblanc ihn um sehr vieles; doch behauptet er
den Rang eines königlichen Gebirges über alle andern, weil die größten Ge¬
birgsketten bei ihm zusammenlaufen und an ihn sich anlehnen."

Die besonders in der Schweiz mit großer Sorgfalt ausgeführten Messungen
haben ergeben, daß die Paßhöhe des Gotthard nur bis zu 2114 Meter ansteigt,
immerhin eine mäßige Höhe im Vergleich zu den übrigen Uebergängen des
Hauptalpenzugs -- ferner daß der höchste der zum Gotthardmassiv gehörigen
Gipfel, der Pizzo Rotondo, sich bis zu 3197 Meter, d. i. rund 10000 Paris.
Fuß erhebt, während der San Gvttardv selbst, zu dessen Füßen das bekannte
Hospiz liegt, eben 2S00 Meter, d. h. die Schneelinie der Alpen erreicht. Es
bedarf daher wohl kaum noch der Versicherung, daß alle Ketten der Hauptalpen
vom Monte Viso bis zum Großglockner ihn um ein Bedeutendes an Höhe
überragen.

Die gegenwärtige Alpenkunde versteht unter dem Gotthard weder den Berg
San Gottardo noch den Paß von Göschenen bis Airolo zwischen Reuß und
Tessin ausschließlich, sondern ein bestimmtes Felsenmassiv, das sich durch leicht
auffindbare Terrain-Einschnitte von feiner Umgebung als ein specifisches Ganze
absondern läßt. Dieses Massiv bildet etwa ein Rechteck, dessen Breitseite vom
Endpunkte der Walliser Alpen (On>I 6o Fukönsn) bis zum Anfang der Splügen-
gruppe (Paß Lukmanier) auf 33 Kilometer sich ausdehnt, während seine Tiefe
von Göschenen bis Airolo in der Luftlinie oder vielmehr in der Tunnellinie
15 Kilometer beträgt. Sein Areal würde also vollständig hinreichen, um das
8 Quadratmeilen große Fürstenthum Schaumburg-Lippe in sich ausnehmen
zu können.

Seine geologischen Bestandtheile setzen sich mit geringer Ausnahme aus
den ältesten Eruptivgesteinen zusammen, unter denen Gneiß an erster Stelle zu
nennen ist, während Granit und Prvtogin in ihrer räumlichen Entfaltung etwas
zurücktreten. An der nördlichen und südliche" Grenze setzen sich schmale Längs-
streisen von Schiefer an, Alluvionen aber finden sich in verschwindend kleiner
Ausdehnung im Unteralpthale, und dieser unbedeutende Flecken moderner Bildung
ist ohne Zweifel durch Abfluß eiues ehemaligen Hochsees entstanden. Abgesehen
von diesem Gebiete, das vielleicht erst in historischer Zeit durch den eben genannten
Proceß hervorgerufen wurde, ist der Alpenstock des Gotthard ein uralter Geselle
aus der Periode der sogenannten amorphen Gesteine, innerhalb deren sich bis


neuerer Zeit mit viel Eifer gepflegten wissenschaftlichen Alpeukunde, erwartete
in der Gegend des Gotthard ein dem Montblanc an Höhe ebenbürtiges Ge¬
birge. Eine richtigere Ansicht über das Verhältniß des ersteren zu den übrigen
Erhebungen besaß Goethe, ohne freilich die Wahrheit völlig erkannt zu haben.
„Der Gotthard," sagt er, „ist zwar nicht das höchste Gebirge der Schweiz, und
in Savoyen übertrifft der Montblanc ihn um sehr vieles; doch behauptet er
den Rang eines königlichen Gebirges über alle andern, weil die größten Ge¬
birgsketten bei ihm zusammenlaufen und an ihn sich anlehnen."

Die besonders in der Schweiz mit großer Sorgfalt ausgeführten Messungen
haben ergeben, daß die Paßhöhe des Gotthard nur bis zu 2114 Meter ansteigt,
immerhin eine mäßige Höhe im Vergleich zu den übrigen Uebergängen des
Hauptalpenzugs — ferner daß der höchste der zum Gotthardmassiv gehörigen
Gipfel, der Pizzo Rotondo, sich bis zu 3197 Meter, d. i. rund 10000 Paris.
Fuß erhebt, während der San Gvttardv selbst, zu dessen Füßen das bekannte
Hospiz liegt, eben 2S00 Meter, d. h. die Schneelinie der Alpen erreicht. Es
bedarf daher wohl kaum noch der Versicherung, daß alle Ketten der Hauptalpen
vom Monte Viso bis zum Großglockner ihn um ein Bedeutendes an Höhe
überragen.

Die gegenwärtige Alpenkunde versteht unter dem Gotthard weder den Berg
San Gottardo noch den Paß von Göschenen bis Airolo zwischen Reuß und
Tessin ausschließlich, sondern ein bestimmtes Felsenmassiv, das sich durch leicht
auffindbare Terrain-Einschnitte von feiner Umgebung als ein specifisches Ganze
absondern läßt. Dieses Massiv bildet etwa ein Rechteck, dessen Breitseite vom
Endpunkte der Walliser Alpen (On>I 6o Fukönsn) bis zum Anfang der Splügen-
gruppe (Paß Lukmanier) auf 33 Kilometer sich ausdehnt, während seine Tiefe
von Göschenen bis Airolo in der Luftlinie oder vielmehr in der Tunnellinie
15 Kilometer beträgt. Sein Areal würde also vollständig hinreichen, um das
8 Quadratmeilen große Fürstenthum Schaumburg-Lippe in sich ausnehmen
zu können.

Seine geologischen Bestandtheile setzen sich mit geringer Ausnahme aus
den ältesten Eruptivgesteinen zusammen, unter denen Gneiß an erster Stelle zu
nennen ist, während Granit und Prvtogin in ihrer räumlichen Entfaltung etwas
zurücktreten. An der nördlichen und südliche« Grenze setzen sich schmale Längs-
streisen von Schiefer an, Alluvionen aber finden sich in verschwindend kleiner
Ausdehnung im Unteralpthale, und dieser unbedeutende Flecken moderner Bildung
ist ohne Zweifel durch Abfluß eiues ehemaligen Hochsees entstanden. Abgesehen
von diesem Gebiete, das vielleicht erst in historischer Zeit durch den eben genannten
Proceß hervorgerufen wurde, ist der Alpenstock des Gotthard ein uralter Geselle
aus der Periode der sogenannten amorphen Gesteine, innerhalb deren sich bis


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[0482] neuerer Zeit mit viel Eifer gepflegten wissenschaftlichen Alpeukunde, erwartete in der Gegend des Gotthard ein dem Montblanc an Höhe ebenbürtiges Ge¬ birge. Eine richtigere Ansicht über das Verhältniß des ersteren zu den übrigen Erhebungen besaß Goethe, ohne freilich die Wahrheit völlig erkannt zu haben. „Der Gotthard," sagt er, „ist zwar nicht das höchste Gebirge der Schweiz, und in Savoyen übertrifft der Montblanc ihn um sehr vieles; doch behauptet er den Rang eines königlichen Gebirges über alle andern, weil die größten Ge¬ birgsketten bei ihm zusammenlaufen und an ihn sich anlehnen." Die besonders in der Schweiz mit großer Sorgfalt ausgeführten Messungen haben ergeben, daß die Paßhöhe des Gotthard nur bis zu 2114 Meter ansteigt, immerhin eine mäßige Höhe im Vergleich zu den übrigen Uebergängen des Hauptalpenzugs — ferner daß der höchste der zum Gotthardmassiv gehörigen Gipfel, der Pizzo Rotondo, sich bis zu 3197 Meter, d. i. rund 10000 Paris. Fuß erhebt, während der San Gvttardv selbst, zu dessen Füßen das bekannte Hospiz liegt, eben 2S00 Meter, d. h. die Schneelinie der Alpen erreicht. Es bedarf daher wohl kaum noch der Versicherung, daß alle Ketten der Hauptalpen vom Monte Viso bis zum Großglockner ihn um ein Bedeutendes an Höhe überragen. Die gegenwärtige Alpenkunde versteht unter dem Gotthard weder den Berg San Gottardo noch den Paß von Göschenen bis Airolo zwischen Reuß und Tessin ausschließlich, sondern ein bestimmtes Felsenmassiv, das sich durch leicht auffindbare Terrain-Einschnitte von feiner Umgebung als ein specifisches Ganze absondern läßt. Dieses Massiv bildet etwa ein Rechteck, dessen Breitseite vom Endpunkte der Walliser Alpen (On>I 6o Fukönsn) bis zum Anfang der Splügen- gruppe (Paß Lukmanier) auf 33 Kilometer sich ausdehnt, während seine Tiefe von Göschenen bis Airolo in der Luftlinie oder vielmehr in der Tunnellinie 15 Kilometer beträgt. Sein Areal würde also vollständig hinreichen, um das 8 Quadratmeilen große Fürstenthum Schaumburg-Lippe in sich ausnehmen zu können. Seine geologischen Bestandtheile setzen sich mit geringer Ausnahme aus den ältesten Eruptivgesteinen zusammen, unter denen Gneiß an erster Stelle zu nennen ist, während Granit und Prvtogin in ihrer räumlichen Entfaltung etwas zurücktreten. An der nördlichen und südliche« Grenze setzen sich schmale Längs- streisen von Schiefer an, Alluvionen aber finden sich in verschwindend kleiner Ausdehnung im Unteralpthale, und dieser unbedeutende Flecken moderner Bildung ist ohne Zweifel durch Abfluß eiues ehemaligen Hochsees entstanden. Abgesehen von diesem Gebiete, das vielleicht erst in historischer Zeit durch den eben genannten Proceß hervorgerufen wurde, ist der Alpenstock des Gotthard ein uralter Geselle aus der Periode der sogenannten amorphen Gesteine, innerhalb deren sich bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/482>, abgerufen am 23.07.2024.