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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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bekannten "Gesammelten Schriften" zeugen von einem Mariner Herzen und freu¬
diger Anerkennung für die Verdienste anderer Komponisten; wir wollen nur
erwähnen, daß er z. B.'Mendelssohn bewunderte und in den Himmel erhob,
während man in Mendelssohns Briefen vergeblich nach anerkennenden Urtheilen
über Schumanns Musik sucht. Schumann wäre darum gar manchem heute
lebenden Tonkünstler als Vorbild echt künstlerischer Gesinnung zu empfehlen.

Es ist nicht nöthig, unsern compvnirenden Nachwuchs von der Nachahmung
Schumanns abzuhalten und auf den einzigen -- Wagner hinzuweisen, wie Herr
Rubinstein unverhohlen genug thut. Nur allzusehr spukt in allen neueren Er¬
scheinungen neben Schumann -- Wagner. Ganz abgesehen von seinen Ver¬
diensten um die Vervollkommnung des musikalischen Ausdrucks poetischer Ideen,
um die Fortbildung naturwahren Gesanges und um die Illustration von Seelen¬
vorgängen, hat Wagner unleugbar neue Töne angeschlagen. Er ist der größte
Harmoniker unserer Zeit, und in der Jnstrumentation ist er ein unvergleichlicher
Colorist; dazu kommt in seinen neuesten Werken eine ziemlich große Anzahl
glücklich erfundener Motive, die durch Anwendung früher selten gewagter Me¬
lodieschritte, besonders aber durch die sie tragende freie Harmonik und dnrch
eine gewählte und buntgestaltige Rhythmik entschieden das Gepräge der Neuheit
und Originalität tragen. Wagner hat daher gerade so wie Schumann sehr viel
Material geschaffen, das seine Epigonen in immer neuer Weise verarbeiten
können. Wir müssen hierin eine gewisse Verwandtschaft Schumanns und Wag¬
ners statuiren. Im Erschließen immer neuer Gebiete der Harmonik ist Wagner
nur Schumann gefolgt, dessen Modulationssystem an Freiheit der Bewegung
nichts zu wünschen übrig läßt und immer wieder durch Neuheiten überrascht;
in der Einführung frei eintretender Dissonanzen der verschiedensten Art dürfte
vor Schumann vergeblich nach einem Meister gesucht werden, der Wagner so
nahe stände wie dieser; welch entzückenden Wohllaut weiß Schumann Melodie¬
schritten wie der verminderten Quarte abzugewinnen! und wie ost gemahnt die
Prägnanz kleiner Motive bei Schumann an Wagner! Wagner hat alle diese
Mittel gesteigert, das steht außer Frage; giebt das aber ein Recht, Schumann
darum zu schmähen, daß er manches schon gerade so gut konnte wie Wagner?
Die Aehnlichkeit geht noch viel weiter: das motivische Geschiebe, die Trans¬
positionen kurzer Sätzchen in die Oberqnarte oder Oberqninte und andere Inter¬
valle, welche von Herrn Rubinstein Schumann als sogenannte "Schusterflecke"
vorgeworfen wurden, sind gewiß bei keinem Componisten so häufig wie bei
Wagner. Und doch wären diese Bildungen bei Wagner viel eher entbehrlich
und vermeidlich als bei Schumann, wo sie die Bildungsgesetze der absoluten
Musik fordern. Ein hervorragender lebender Komponist bemerkte mit Rücksicht
auf Rubinsteins Schrift: "Dann werden die Herren freilich wenig Symphonien


bekannten „Gesammelten Schriften" zeugen von einem Mariner Herzen und freu¬
diger Anerkennung für die Verdienste anderer Komponisten; wir wollen nur
erwähnen, daß er z. B.'Mendelssohn bewunderte und in den Himmel erhob,
während man in Mendelssohns Briefen vergeblich nach anerkennenden Urtheilen
über Schumanns Musik sucht. Schumann wäre darum gar manchem heute
lebenden Tonkünstler als Vorbild echt künstlerischer Gesinnung zu empfehlen.

Es ist nicht nöthig, unsern compvnirenden Nachwuchs von der Nachahmung
Schumanns abzuhalten und auf den einzigen — Wagner hinzuweisen, wie Herr
Rubinstein unverhohlen genug thut. Nur allzusehr spukt in allen neueren Er¬
scheinungen neben Schumann — Wagner. Ganz abgesehen von seinen Ver¬
diensten um die Vervollkommnung des musikalischen Ausdrucks poetischer Ideen,
um die Fortbildung naturwahren Gesanges und um die Illustration von Seelen¬
vorgängen, hat Wagner unleugbar neue Töne angeschlagen. Er ist der größte
Harmoniker unserer Zeit, und in der Jnstrumentation ist er ein unvergleichlicher
Colorist; dazu kommt in seinen neuesten Werken eine ziemlich große Anzahl
glücklich erfundener Motive, die durch Anwendung früher selten gewagter Me¬
lodieschritte, besonders aber durch die sie tragende freie Harmonik und dnrch
eine gewählte und buntgestaltige Rhythmik entschieden das Gepräge der Neuheit
und Originalität tragen. Wagner hat daher gerade so wie Schumann sehr viel
Material geschaffen, das seine Epigonen in immer neuer Weise verarbeiten
können. Wir müssen hierin eine gewisse Verwandtschaft Schumanns und Wag¬
ners statuiren. Im Erschließen immer neuer Gebiete der Harmonik ist Wagner
nur Schumann gefolgt, dessen Modulationssystem an Freiheit der Bewegung
nichts zu wünschen übrig läßt und immer wieder durch Neuheiten überrascht;
in der Einführung frei eintretender Dissonanzen der verschiedensten Art dürfte
vor Schumann vergeblich nach einem Meister gesucht werden, der Wagner so
nahe stände wie dieser; welch entzückenden Wohllaut weiß Schumann Melodie¬
schritten wie der verminderten Quarte abzugewinnen! und wie ost gemahnt die
Prägnanz kleiner Motive bei Schumann an Wagner! Wagner hat alle diese
Mittel gesteigert, das steht außer Frage; giebt das aber ein Recht, Schumann
darum zu schmähen, daß er manches schon gerade so gut konnte wie Wagner?
Die Aehnlichkeit geht noch viel weiter: das motivische Geschiebe, die Trans¬
positionen kurzer Sätzchen in die Oberqnarte oder Oberqninte und andere Inter¬
valle, welche von Herrn Rubinstein Schumann als sogenannte „Schusterflecke"
vorgeworfen wurden, sind gewiß bei keinem Componisten so häufig wie bei
Wagner. Und doch wären diese Bildungen bei Wagner viel eher entbehrlich
und vermeidlich als bei Schumann, wo sie die Bildungsgesetze der absoluten
Musik fordern. Ein hervorragender lebender Komponist bemerkte mit Rücksicht
auf Rubinsteins Schrift: „Dann werden die Herren freilich wenig Symphonien


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[0047] bekannten „Gesammelten Schriften" zeugen von einem Mariner Herzen und freu¬ diger Anerkennung für die Verdienste anderer Komponisten; wir wollen nur erwähnen, daß er z. B.'Mendelssohn bewunderte und in den Himmel erhob, während man in Mendelssohns Briefen vergeblich nach anerkennenden Urtheilen über Schumanns Musik sucht. Schumann wäre darum gar manchem heute lebenden Tonkünstler als Vorbild echt künstlerischer Gesinnung zu empfehlen. Es ist nicht nöthig, unsern compvnirenden Nachwuchs von der Nachahmung Schumanns abzuhalten und auf den einzigen — Wagner hinzuweisen, wie Herr Rubinstein unverhohlen genug thut. Nur allzusehr spukt in allen neueren Er¬ scheinungen neben Schumann — Wagner. Ganz abgesehen von seinen Ver¬ diensten um die Vervollkommnung des musikalischen Ausdrucks poetischer Ideen, um die Fortbildung naturwahren Gesanges und um die Illustration von Seelen¬ vorgängen, hat Wagner unleugbar neue Töne angeschlagen. Er ist der größte Harmoniker unserer Zeit, und in der Jnstrumentation ist er ein unvergleichlicher Colorist; dazu kommt in seinen neuesten Werken eine ziemlich große Anzahl glücklich erfundener Motive, die durch Anwendung früher selten gewagter Me¬ lodieschritte, besonders aber durch die sie tragende freie Harmonik und dnrch eine gewählte und buntgestaltige Rhythmik entschieden das Gepräge der Neuheit und Originalität tragen. Wagner hat daher gerade so wie Schumann sehr viel Material geschaffen, das seine Epigonen in immer neuer Weise verarbeiten können. Wir müssen hierin eine gewisse Verwandtschaft Schumanns und Wag¬ ners statuiren. Im Erschließen immer neuer Gebiete der Harmonik ist Wagner nur Schumann gefolgt, dessen Modulationssystem an Freiheit der Bewegung nichts zu wünschen übrig läßt und immer wieder durch Neuheiten überrascht; in der Einführung frei eintretender Dissonanzen der verschiedensten Art dürfte vor Schumann vergeblich nach einem Meister gesucht werden, der Wagner so nahe stände wie dieser; welch entzückenden Wohllaut weiß Schumann Melodie¬ schritten wie der verminderten Quarte abzugewinnen! und wie ost gemahnt die Prägnanz kleiner Motive bei Schumann an Wagner! Wagner hat alle diese Mittel gesteigert, das steht außer Frage; giebt das aber ein Recht, Schumann darum zu schmähen, daß er manches schon gerade so gut konnte wie Wagner? Die Aehnlichkeit geht noch viel weiter: das motivische Geschiebe, die Trans¬ positionen kurzer Sätzchen in die Oberqnarte oder Oberqninte und andere Inter¬ valle, welche von Herrn Rubinstein Schumann als sogenannte „Schusterflecke" vorgeworfen wurden, sind gewiß bei keinem Componisten so häufig wie bei Wagner. Und doch wären diese Bildungen bei Wagner viel eher entbehrlich und vermeidlich als bei Schumann, wo sie die Bildungsgesetze der absoluten Musik fordern. Ein hervorragender lebender Komponist bemerkte mit Rücksicht auf Rubinsteins Schrift: „Dann werden die Herren freilich wenig Symphonien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/47>, abgerufen am 23.07.2024.