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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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mehr und mehr, und in dem liturgischen Element verschwand aus dem evan¬
gelischen Gottesdienst eines seiner ältesten, erhabensten, ja wesentlichsten Bestand¬
theile. Als die Zeit des älteren Rationalismus abgelaufen war und wieder
wärmer empfindende und tiefer denkende Richtungen zur Geltung kamen, da
empfand man alsbald das Bedürfniß neuer Agenten, vor allem, um die verküm¬
merte Liturgie wieder herzustellen. Aber man stellte nicht auch zugleich die Musik
wieder her. Wollte, verstand oder konnte man es nicht? Jedenfalls blieb das
Werk nur ein halbes, und auch nur ein halb lebensfähiges. Blicken wir doch
in unsere Gottesdienste, um uns zu überzeugen, wie viel von der neu angeord¬
neten Liturgie schon jetzt wieder aus dem Gebrauche zu schwinden pflegt, und
wie gering, ja leider wie ermüdend der Eindruck der bloß gelesenen Liturgie
auf den Hörer wirkt. Läßt man gar die Liturgie gregorianisch vom Geistlichen
mit der Gemeinde singen, und begleitet dabei diese jeder Begleitung widerstre¬
benden Tonreihen auf der Orgel mit sei es nun modernen oder archaistischen
Accorden, so wird das Schlimme bis zur Unertrüglichkeit gesteigert. Wenn es
auf diesem Wege weiter geht, so werden wir mit der Liturgie sehr bald wieder
an dem Punkte stehen, wo die Dinge vor dem Erlaß der neuen Agenten standen.

Verschließen wir unsere Augen nicht vor der Erkenntniß, daß in der Liturgie
Wort und Musik sich zu einander verhalten wie Seele und Leib, und daß darum
auch diese Musiken eine Schöpfung göttlichen Geistes in der Kirche sind. Die
Seele -- das Wort der Liturgie -- hat sich diesen Leib für ihr sinnliches
Erscheinen und Wirken aus sich selbst heraus durch die vermittelnde Hand der
größten Künstler aller Jahrhunderte gebildet und geformt: in ältester Zeit zuerst
in Gestalt der schlichten gregorianischen Gesangsformeln, dann, dem Entwicklungs¬
gange der Kunst von Schritt zu Schritt folgend und die Kunst selbst adelnd,
in allen Gestaltungsarten der sich stets verjüngenden und aus dem Geiste jeder
neuen Zeit wieder neugeborenen Kunst. Und das hätten wir nicht als ein
Werk göttlichen Geistes zu erkennen und hochzuhalten, so gut wie jede andere
Regung des Geistes in der Kirche? Gewiß, es ist im vollen Sinne des Wortes
eine kirchliche Pflicht, welche die evangelischen Gemeinden verkennen und ver¬
säumen, wenn sie hier nicht thatkräftig und vertrauensvoll die Hand ans
Werk legen.

Jetzt trauert die von ihrem Leibe geschiedene Seele der Liturgie, weil das
Wort in ihr nicht Fleisch werden will; ihr Wort berührt wohl unseren denkenden
Geist, aber es durchdringt nicht zugleich auch unser Gemüth mit frommer Erhe¬
bung. Geben wir der Trauernden den verklärten Leib der Töne zurück, damit
sie wieder herrlich, wie ehedem, unter uns erscheine, ein Bote von oben, mit
himmlischer Verkündung an unser Herz!


Oscar Wolff.


Grenzboten I. 1830. S8

mehr und mehr, und in dem liturgischen Element verschwand aus dem evan¬
gelischen Gottesdienst eines seiner ältesten, erhabensten, ja wesentlichsten Bestand¬
theile. Als die Zeit des älteren Rationalismus abgelaufen war und wieder
wärmer empfindende und tiefer denkende Richtungen zur Geltung kamen, da
empfand man alsbald das Bedürfniß neuer Agenten, vor allem, um die verküm¬
merte Liturgie wieder herzustellen. Aber man stellte nicht auch zugleich die Musik
wieder her. Wollte, verstand oder konnte man es nicht? Jedenfalls blieb das
Werk nur ein halbes, und auch nur ein halb lebensfähiges. Blicken wir doch
in unsere Gottesdienste, um uns zu überzeugen, wie viel von der neu angeord¬
neten Liturgie schon jetzt wieder aus dem Gebrauche zu schwinden pflegt, und
wie gering, ja leider wie ermüdend der Eindruck der bloß gelesenen Liturgie
auf den Hörer wirkt. Läßt man gar die Liturgie gregorianisch vom Geistlichen
mit der Gemeinde singen, und begleitet dabei diese jeder Begleitung widerstre¬
benden Tonreihen auf der Orgel mit sei es nun modernen oder archaistischen
Accorden, so wird das Schlimme bis zur Unertrüglichkeit gesteigert. Wenn es
auf diesem Wege weiter geht, so werden wir mit der Liturgie sehr bald wieder
an dem Punkte stehen, wo die Dinge vor dem Erlaß der neuen Agenten standen.

Verschließen wir unsere Augen nicht vor der Erkenntniß, daß in der Liturgie
Wort und Musik sich zu einander verhalten wie Seele und Leib, und daß darum
auch diese Musiken eine Schöpfung göttlichen Geistes in der Kirche sind. Die
Seele — das Wort der Liturgie — hat sich diesen Leib für ihr sinnliches
Erscheinen und Wirken aus sich selbst heraus durch die vermittelnde Hand der
größten Künstler aller Jahrhunderte gebildet und geformt: in ältester Zeit zuerst
in Gestalt der schlichten gregorianischen Gesangsformeln, dann, dem Entwicklungs¬
gange der Kunst von Schritt zu Schritt folgend und die Kunst selbst adelnd,
in allen Gestaltungsarten der sich stets verjüngenden und aus dem Geiste jeder
neuen Zeit wieder neugeborenen Kunst. Und das hätten wir nicht als ein
Werk göttlichen Geistes zu erkennen und hochzuhalten, so gut wie jede andere
Regung des Geistes in der Kirche? Gewiß, es ist im vollen Sinne des Wortes
eine kirchliche Pflicht, welche die evangelischen Gemeinden verkennen und ver¬
säumen, wenn sie hier nicht thatkräftig und vertrauensvoll die Hand ans
Werk legen.

Jetzt trauert die von ihrem Leibe geschiedene Seele der Liturgie, weil das
Wort in ihr nicht Fleisch werden will; ihr Wort berührt wohl unseren denkenden
Geist, aber es durchdringt nicht zugleich auch unser Gemüth mit frommer Erhe¬
bung. Geben wir der Trauernden den verklärten Leib der Töne zurück, damit
sie wieder herrlich, wie ehedem, unter uns erscheine, ein Bote von oben, mit
himmlischer Verkündung an unser Herz!


Oscar Wolff.


Grenzboten I. 1830. S8
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/465>, abgerufen am 23.07.2024.