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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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einen Operntext, gedruckt vor Augen hat, bleiben ihm theilweise unverständlich,
auch wenn es deutsche Worte sind.

Können wir aus einer solchen Gegenüberstellung wohl einen anderen Schluß
ziehen, als den, daß die Cantate, obwohl gewiß ein kirchliches, so doch nicht im
wahren Sinne ein gottesdienstliches Kunstwerk ist? Und können wir uns dann
noch wundern, daß sie trotz aller musikalischen Herrlichkeit dennoch aus dem
Gottesdienste so rasch wieder verschwand?

War nun aber jener Weg, der unter allmählicher Beiseiteschiebung der
Messe zur Cantate führte, eine falsche Bahn, so haben wir, um das Richtige zu
treffen, eben nur den alten Weg wieder zu betreten, indem wir in unserem
Hauptgottesdienste, oder wenigstens zunächst im Festgottesdienste, nach altem guten
Brauch den musikalischen Gesang der Mesztexte durch deu Chor wieder einführen,
und zwar -- so wie es das 16. Jahrhundert gethan hat -- im gewöhnlichen
Gottesdienste in der Form der misss. brevis (AMs, Moria und Oeäo), bei sich
anschließendem Abendmahl auch das Lanows und ^g-ruis on>i. Wer möchte so
unverständig sein, einen solchen Schritt etwa als einen "katholisirenden" zu ver¬
dächtigen, da er doch nur das wiederherstellen würde, was Luthers eigene Auto¬
rität für sich hat?

In dem Augenblicke aber, wo wir uns hierzu entschließen und aufraffen,
lenken wir zugleich deu ganzen breiten Strom der herrlichsten und erhabensten
Kunstschöpfungen dreier Jahrhunderte aus der katholischen Kirche in die unsere
mit herüber. Wir geben damit zugleich den evangelischen Tonmeistern eine der
größten und fruchtbarsten Aufgaben zurück, welche der Musik überhaupt gestellt
werden können, wobei sie dann ihren Compositionen nach Belieben auch deutsche
Meßtexte zu Grunde legen mögen.

Alles weitere dürfen wir getrost seiner eigenen Entwicklung überlassen.
Einer neuen Agende, welche hierfür den Grund zu legen hätte, bedarf es nicht
erst, wenigstens da nicht, wo, wie in Preußen oder in Baiern, die alte Liturgie
durch neue Agenten hergestellt worden ist. Was nur gewohnheitsmäßig und
allmählich abgekommen ist, das wiederum zur guten Gewohnheit zu erheben,
dürfen wir einfach dem kirchlichen Gebrauche überlassen. Die hohe Bedeutung
der Sache möge die Gemeinden zu rüstigem und entschlossenem Vorgehen bewegen.

Von hoher Bedeutung ist dies Ziel nicht nur für die Kunst, nicht nur für
die Förderung der Andacht, nicht nur für die Anziehungskraft auf die Ge¬
müther der Menschen, welche Anziehungskraft ganz unleugbar die katholische
Kirche vor der evangelischen durch ihre Musik voraus hat; es handelt sich zu¬
gleich um ein im eigentlichsten Sinne kirchliches Interesse, nämlich um die
Liturgie. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts verstummte nicht die
Musik allein, sondern gleichzeitig mit ihr verkümmerte auch die Liturgie selbst


einen Operntext, gedruckt vor Augen hat, bleiben ihm theilweise unverständlich,
auch wenn es deutsche Worte sind.

Können wir aus einer solchen Gegenüberstellung wohl einen anderen Schluß
ziehen, als den, daß die Cantate, obwohl gewiß ein kirchliches, so doch nicht im
wahren Sinne ein gottesdienstliches Kunstwerk ist? Und können wir uns dann
noch wundern, daß sie trotz aller musikalischen Herrlichkeit dennoch aus dem
Gottesdienste so rasch wieder verschwand?

War nun aber jener Weg, der unter allmählicher Beiseiteschiebung der
Messe zur Cantate führte, eine falsche Bahn, so haben wir, um das Richtige zu
treffen, eben nur den alten Weg wieder zu betreten, indem wir in unserem
Hauptgottesdienste, oder wenigstens zunächst im Festgottesdienste, nach altem guten
Brauch den musikalischen Gesang der Mesztexte durch deu Chor wieder einführen,
und zwar — so wie es das 16. Jahrhundert gethan hat — im gewöhnlichen
Gottesdienste in der Form der misss. brevis (AMs, Moria und Oeäo), bei sich
anschließendem Abendmahl auch das Lanows und ^g-ruis on>i. Wer möchte so
unverständig sein, einen solchen Schritt etwa als einen „katholisirenden" zu ver¬
dächtigen, da er doch nur das wiederherstellen würde, was Luthers eigene Auto¬
rität für sich hat?

In dem Augenblicke aber, wo wir uns hierzu entschließen und aufraffen,
lenken wir zugleich deu ganzen breiten Strom der herrlichsten und erhabensten
Kunstschöpfungen dreier Jahrhunderte aus der katholischen Kirche in die unsere
mit herüber. Wir geben damit zugleich den evangelischen Tonmeistern eine der
größten und fruchtbarsten Aufgaben zurück, welche der Musik überhaupt gestellt
werden können, wobei sie dann ihren Compositionen nach Belieben auch deutsche
Meßtexte zu Grunde legen mögen.

Alles weitere dürfen wir getrost seiner eigenen Entwicklung überlassen.
Einer neuen Agende, welche hierfür den Grund zu legen hätte, bedarf es nicht
erst, wenigstens da nicht, wo, wie in Preußen oder in Baiern, die alte Liturgie
durch neue Agenten hergestellt worden ist. Was nur gewohnheitsmäßig und
allmählich abgekommen ist, das wiederum zur guten Gewohnheit zu erheben,
dürfen wir einfach dem kirchlichen Gebrauche überlassen. Die hohe Bedeutung
der Sache möge die Gemeinden zu rüstigem und entschlossenem Vorgehen bewegen.

Von hoher Bedeutung ist dies Ziel nicht nur für die Kunst, nicht nur für
die Förderung der Andacht, nicht nur für die Anziehungskraft auf die Ge¬
müther der Menschen, welche Anziehungskraft ganz unleugbar die katholische
Kirche vor der evangelischen durch ihre Musik voraus hat; es handelt sich zu¬
gleich um ein im eigentlichsten Sinne kirchliches Interesse, nämlich um die
Liturgie. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts verstummte nicht die
Musik allein, sondern gleichzeitig mit ihr verkümmerte auch die Liturgie selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/464>, abgerufen am 23.07.2024.