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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Introitus, das 15Ms, Aoii", ort-alö und Kcmotus mit dein lateinischen Text im
Figuralgesange singen solle. Statt des Namens Messe wandte man für eine
solche Musik, sobald sie nur für einen gewöhnlichen Gottesdienst bestimmt sein
sollte, die Bezeichnung missa vrevls oder auch wohl "protestantische Messe" an.
Den entschiedensten Beweis dafür, daß die Messe niemals ganz verschwunden
ist, liefert auch der Umstand, daß wie im 16., so auch im 17. und 18. Jahr¬
hundert Meßcompositionen und Sammlungen von Messen evangelischer Ton¬
meister und für die evangelische Kirche bestimmt sich finden. Hat doch auch
Joh. Seb. Bach noch fünf Messen geschrieben, und zwar wissen drsvss ohne
Orsäo, die also nur zwei Sätze, das X/ris und Gloria enthalten, deren eine
er aber zu einer vollständigen Messe, zu der gewaltigen H-Moll-Messe, erweiterte.
Zwar hat man sich durch den Umstand, daß er einige dieser inissas Krsves
dem Könige von Sachsen übersandte, zu dem Schlüsse verleiten lassen, sie seien
ster den katholischen Gottesdienst in Dresden von ihm geschrieben worden. Dabei
ist man aber, um einer vermeintlichen Unbegreiflichkeit zu entgehen, in eine
Ungereimtheit verfallen, die auf mangelhafter Kenntniß des katholischen Gottes¬
dienstes beruht; für die katholische Kirche ist eine wissa brsvis überhaupt nicht
verwendbar, sie kann also nur für den evangelischen Gottesdienst geschrieben
gewesen sein.

Soweit die geschichtlichen Betrachtungen des Freiherrn v. Liliencron, die
wir, schon um der ausführlicheren Bearbeitung und Fortsetzung durch den Autor
selbst nicht vorzugreifen, nur in ihren Grundzügen hier mitgetheilt haben. Der
Redner beendete seinen Vortrag mit einer vergleichenden Zusammenstellung der
von ihm bis dahin in ihrer geschichtlichen Entwicklung vorgeführten Cantate und
Messe, einer Zusammenstellung, der er sodann sein Urtheil und seine Vorschläge
für die Zukunft anschloß.

Der Gesang der Meßtexte begleitet die ununterbrochen vorwärts schreitende
heilige Handlung: die Cantate dagegen unterbricht sie als ein für sich bestehendes
Ganze; jene will also nur dienend auftreten, diese als selbständiges Kunstwerk
wirken; jene will in die Stimmung der andächtigen Gemeinde nur läuternd und
steigernd hineinklingen, ohne sie von dem eigentlichen Gegenstande ihrer Andacht
abzuziehen, diese verlangt für sich die ausschließliche Aufmerksamkeit des Hörers.
Die Messe enthält Texte von monumentaler Größe, fast so alt wie die Kirche
selbst und unvergänglich wie sie, die Cantate hingegen Dichtungen rein subjectiven
Charakters, dem Geschmack oder Ungeschmack der Dichter, dem Wandel der
Zeiten unterworfen. Der Inhalt der Meßtexte ist dem Hörer bekannt und als
Moment seiner Andacht gegenwärtig, selbst wenn er in einer ihm fremden
Sprache gesungen wird: die Worte der Cantate aber, falls er sie nicht, wie


Introitus, das 15Ms, Aoii», ort-alö und Kcmotus mit dein lateinischen Text im
Figuralgesange singen solle. Statt des Namens Messe wandte man für eine
solche Musik, sobald sie nur für einen gewöhnlichen Gottesdienst bestimmt sein
sollte, die Bezeichnung missa vrevls oder auch wohl „protestantische Messe" an.
Den entschiedensten Beweis dafür, daß die Messe niemals ganz verschwunden
ist, liefert auch der Umstand, daß wie im 16., so auch im 17. und 18. Jahr¬
hundert Meßcompositionen und Sammlungen von Messen evangelischer Ton¬
meister und für die evangelische Kirche bestimmt sich finden. Hat doch auch
Joh. Seb. Bach noch fünf Messen geschrieben, und zwar wissen drsvss ohne
Orsäo, die also nur zwei Sätze, das X/ris und Gloria enthalten, deren eine
er aber zu einer vollständigen Messe, zu der gewaltigen H-Moll-Messe, erweiterte.
Zwar hat man sich durch den Umstand, daß er einige dieser inissas Krsves
dem Könige von Sachsen übersandte, zu dem Schlüsse verleiten lassen, sie seien
ster den katholischen Gottesdienst in Dresden von ihm geschrieben worden. Dabei
ist man aber, um einer vermeintlichen Unbegreiflichkeit zu entgehen, in eine
Ungereimtheit verfallen, die auf mangelhafter Kenntniß des katholischen Gottes¬
dienstes beruht; für die katholische Kirche ist eine wissa brsvis überhaupt nicht
verwendbar, sie kann also nur für den evangelischen Gottesdienst geschrieben
gewesen sein.

Soweit die geschichtlichen Betrachtungen des Freiherrn v. Liliencron, die
wir, schon um der ausführlicheren Bearbeitung und Fortsetzung durch den Autor
selbst nicht vorzugreifen, nur in ihren Grundzügen hier mitgetheilt haben. Der
Redner beendete seinen Vortrag mit einer vergleichenden Zusammenstellung der
von ihm bis dahin in ihrer geschichtlichen Entwicklung vorgeführten Cantate und
Messe, einer Zusammenstellung, der er sodann sein Urtheil und seine Vorschläge
für die Zukunft anschloß.

Der Gesang der Meßtexte begleitet die ununterbrochen vorwärts schreitende
heilige Handlung: die Cantate dagegen unterbricht sie als ein für sich bestehendes
Ganze; jene will also nur dienend auftreten, diese als selbständiges Kunstwerk
wirken; jene will in die Stimmung der andächtigen Gemeinde nur läuternd und
steigernd hineinklingen, ohne sie von dem eigentlichen Gegenstande ihrer Andacht
abzuziehen, diese verlangt für sich die ausschließliche Aufmerksamkeit des Hörers.
Die Messe enthält Texte von monumentaler Größe, fast so alt wie die Kirche
selbst und unvergänglich wie sie, die Cantate hingegen Dichtungen rein subjectiven
Charakters, dem Geschmack oder Ungeschmack der Dichter, dem Wandel der
Zeiten unterworfen. Der Inhalt der Meßtexte ist dem Hörer bekannt und als
Moment seiner Andacht gegenwärtig, selbst wenn er in einer ihm fremden
Sprache gesungen wird: die Worte der Cantate aber, falls er sie nicht, wie


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[0463] Introitus, das 15Ms, Aoii», ort-alö und Kcmotus mit dein lateinischen Text im Figuralgesange singen solle. Statt des Namens Messe wandte man für eine solche Musik, sobald sie nur für einen gewöhnlichen Gottesdienst bestimmt sein sollte, die Bezeichnung missa vrevls oder auch wohl „protestantische Messe" an. Den entschiedensten Beweis dafür, daß die Messe niemals ganz verschwunden ist, liefert auch der Umstand, daß wie im 16., so auch im 17. und 18. Jahr¬ hundert Meßcompositionen und Sammlungen von Messen evangelischer Ton¬ meister und für die evangelische Kirche bestimmt sich finden. Hat doch auch Joh. Seb. Bach noch fünf Messen geschrieben, und zwar wissen drsvss ohne Orsäo, die also nur zwei Sätze, das X/ris und Gloria enthalten, deren eine er aber zu einer vollständigen Messe, zu der gewaltigen H-Moll-Messe, erweiterte. Zwar hat man sich durch den Umstand, daß er einige dieser inissas Krsves dem Könige von Sachsen übersandte, zu dem Schlüsse verleiten lassen, sie seien ster den katholischen Gottesdienst in Dresden von ihm geschrieben worden. Dabei ist man aber, um einer vermeintlichen Unbegreiflichkeit zu entgehen, in eine Ungereimtheit verfallen, die auf mangelhafter Kenntniß des katholischen Gottes¬ dienstes beruht; für die katholische Kirche ist eine wissa brsvis überhaupt nicht verwendbar, sie kann also nur für den evangelischen Gottesdienst geschrieben gewesen sein. Soweit die geschichtlichen Betrachtungen des Freiherrn v. Liliencron, die wir, schon um der ausführlicheren Bearbeitung und Fortsetzung durch den Autor selbst nicht vorzugreifen, nur in ihren Grundzügen hier mitgetheilt haben. Der Redner beendete seinen Vortrag mit einer vergleichenden Zusammenstellung der von ihm bis dahin in ihrer geschichtlichen Entwicklung vorgeführten Cantate und Messe, einer Zusammenstellung, der er sodann sein Urtheil und seine Vorschläge für die Zukunft anschloß. Der Gesang der Meßtexte begleitet die ununterbrochen vorwärts schreitende heilige Handlung: die Cantate dagegen unterbricht sie als ein für sich bestehendes Ganze; jene will also nur dienend auftreten, diese als selbständiges Kunstwerk wirken; jene will in die Stimmung der andächtigen Gemeinde nur läuternd und steigernd hineinklingen, ohne sie von dem eigentlichen Gegenstande ihrer Andacht abzuziehen, diese verlangt für sich die ausschließliche Aufmerksamkeit des Hörers. Die Messe enthält Texte von monumentaler Größe, fast so alt wie die Kirche selbst und unvergänglich wie sie, die Cantate hingegen Dichtungen rein subjectiven Charakters, dem Geschmack oder Ungeschmack der Dichter, dem Wandel der Zeiten unterworfen. Der Inhalt der Meßtexte ist dem Hörer bekannt und als Moment seiner Andacht gegenwärtig, selbst wenn er in einer ihm fremden Sprache gesungen wird: die Worte der Cantate aber, falls er sie nicht, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/463>, abgerufen am 23.07.2024.