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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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fest, d. h. ihre Texte bestanden entweder in Bibelversen und Theilen der Liturgie
oder in Gesangbnchsliedern, Sie blieben also streng gottesdienstlich und textlich
der Gemeinde verständlich. Eine nochmalige Einwirkung der Oper, diesmal
aber nicht unmittelbar von Italien ausgehend, sondern von Hamburg, wo die
1678 gegründete Oper seit den letzten Jahren des Jahrhunderts unter Keiser
in die Periode ihrer höchsten Blüthe trat, führte sodann die evangelische Kirche
auf der betretenen abschüssigen Bahn noch um einen verhängnißvollen Schritt
weiter: man vertauschte nun auch die biblisch-liturgischen oder Gesangbuchstexte
mit freien Dichtungen. Damit war man bei der eigentlichen, sogenannten Kirchen-
cantate angelangt. Wohl wurde auch hierbei der Zusammenhang oder doch
eine gewisse Parallele mit den alten wechselnden Meßtexten noch nicht ganz und
gar aufgegeben, sondern man faßte bei diesen Cantaten-Dichtungen die einzelne"
Sonn- und Festtage insofern ins Auge, als man den Inhalt der Dichtung an
den Gedankenkreis ihrer biblischen Lectionen anlehnte und ein damit zusammen¬
hängendes Gesangbuchslied mit Wort und Melodie in die Cantate verwob. Der
sonstige Inhalt aber bestand dann in -- "freier Poesie".

Die aus einer Reihe einzelner Nummern zusammengefügte Cantate gewann
nun bald einen so großen Umfang, daß, wenn der Gottesdienst nicht eine,
wenigstens für den gewöhnlichen Sonntag ganz unzulässige Ausdehnung erfahren
sollte, für andere Chormusik neben der Cantate keine Zeit mehr übrig blieb.
So starben die anderen Musiken um so sicherer ab, die Cantate aber pflegte
man nach der Predigt, äußerlich also an der Stelle des alten Offertoriums
zu singen.

Dies ist die Cantate, die Joh. Seb- Bach im Entstehen vorfand, und der
er musikalisch die höchste Vollendung gab in fünf Jahrgängen von Cantaten,
unter denen viele als Tonwerke stets zu den kostbarsten Perlen zählen werden,
die sich aber im gottesdienstlichen Gebrauche kaum jemals weit über den Kreis
verbreitet haben werden, den der Einfluß Bach's unmittelbar beherrschte, und
die, als der Meister kaum die Augen geschlossen hatte, aus der Kirche völlig
wieder verschwanden -- mit ihnen zugleich aber die ganze Chornmsik überhaupt.
Ein wunderbares Vorkommniß in der Kunstgeschichte, daß ein Zweig in dem
Augenblicke, wo er eben in üppiger Fülle die herrlichsten Blüthen treibt, verdorrt
und abstirbt.

War aber auch inzwischen die Messe von der Cantate zurückgedrängt, ganz
verdrängt aus dem Gebrauche der evangelischen Gemeinden ist sie nicht worden.
Das lehren uns einzelne bis in die neueste Zeit erhaltene Reste, das ergeben
geschichtliche Notizen, das beweist uus aufs unzweideutigste das Sachsen-Weißen-
selsische Gesang- und Kirchenbuch von 1712, wenn es z. B. für den Festgottes¬
dienst des ersten Weihnachtstages ausdrücklich anordnet, daß der Chor den


fest, d. h. ihre Texte bestanden entweder in Bibelversen und Theilen der Liturgie
oder in Gesangbnchsliedern, Sie blieben also streng gottesdienstlich und textlich
der Gemeinde verständlich. Eine nochmalige Einwirkung der Oper, diesmal
aber nicht unmittelbar von Italien ausgehend, sondern von Hamburg, wo die
1678 gegründete Oper seit den letzten Jahren des Jahrhunderts unter Keiser
in die Periode ihrer höchsten Blüthe trat, führte sodann die evangelische Kirche
auf der betretenen abschüssigen Bahn noch um einen verhängnißvollen Schritt
weiter: man vertauschte nun auch die biblisch-liturgischen oder Gesangbuchstexte
mit freien Dichtungen. Damit war man bei der eigentlichen, sogenannten Kirchen-
cantate angelangt. Wohl wurde auch hierbei der Zusammenhang oder doch
eine gewisse Parallele mit den alten wechselnden Meßtexten noch nicht ganz und
gar aufgegeben, sondern man faßte bei diesen Cantaten-Dichtungen die einzelne»
Sonn- und Festtage insofern ins Auge, als man den Inhalt der Dichtung an
den Gedankenkreis ihrer biblischen Lectionen anlehnte und ein damit zusammen¬
hängendes Gesangbuchslied mit Wort und Melodie in die Cantate verwob. Der
sonstige Inhalt aber bestand dann in — „freier Poesie".

Die aus einer Reihe einzelner Nummern zusammengefügte Cantate gewann
nun bald einen so großen Umfang, daß, wenn der Gottesdienst nicht eine,
wenigstens für den gewöhnlichen Sonntag ganz unzulässige Ausdehnung erfahren
sollte, für andere Chormusik neben der Cantate keine Zeit mehr übrig blieb.
So starben die anderen Musiken um so sicherer ab, die Cantate aber pflegte
man nach der Predigt, äußerlich also an der Stelle des alten Offertoriums
zu singen.

Dies ist die Cantate, die Joh. Seb- Bach im Entstehen vorfand, und der
er musikalisch die höchste Vollendung gab in fünf Jahrgängen von Cantaten,
unter denen viele als Tonwerke stets zu den kostbarsten Perlen zählen werden,
die sich aber im gottesdienstlichen Gebrauche kaum jemals weit über den Kreis
verbreitet haben werden, den der Einfluß Bach's unmittelbar beherrschte, und
die, als der Meister kaum die Augen geschlossen hatte, aus der Kirche völlig
wieder verschwanden — mit ihnen zugleich aber die ganze Chornmsik überhaupt.
Ein wunderbares Vorkommniß in der Kunstgeschichte, daß ein Zweig in dem
Augenblicke, wo er eben in üppiger Fülle die herrlichsten Blüthen treibt, verdorrt
und abstirbt.

War aber auch inzwischen die Messe von der Cantate zurückgedrängt, ganz
verdrängt aus dem Gebrauche der evangelischen Gemeinden ist sie nicht worden.
Das lehren uns einzelne bis in die neueste Zeit erhaltene Reste, das ergeben
geschichtliche Notizen, das beweist uus aufs unzweideutigste das Sachsen-Weißen-
selsische Gesang- und Kirchenbuch von 1712, wenn es z. B. für den Festgottes¬
dienst des ersten Weihnachtstages ausdrücklich anordnet, daß der Chor den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/462>, abgerufen am 23.07.2024.