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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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eng und finster, die alten stolzen Bauten zerbröckeln oder sind schon ganz zu
Trüminerstätten geworden. Allenthalben stößt man auf Spuren der Verhee¬
rungen, mit denen mongolische und persische Eroberer die Stadt heimsuchten.
Denn wegen ihrer hohen strategischen Wichtigkeit war sie von jeher ein Zank¬
apfel zwischen Persien und Afghanistan, und zu allen Zeiten mußte jeder Feld¬
herr, der von Westasien nach Indien zog, sich ihrer zu bemächtigen suchen, bevor
er seinen Marsch weiter nach Osten fortsetzen konnte. Selbst die Hauptmoschee,
ein gewaltiger Bau mit prachtvoller Ausschmückung, neigt sich schon lange dem
Einsturz zu. Der Königsgarten, ehedem als eins der Wunder der Welt ge¬
feiert, war schon vor Jahrzehnten nichts als eine Ruinenstätte zusammengefal¬
lener Paläste. Zu den merkwürdigsten Bauwerken der Stadt gehört die Mus-
sala (Andachtsort), welche die irdischen Reste eines der größten sabinischen Hei¬
ligen, des Imam Riza, der im nennten Jahrhundert (angeblich vom Chalifen
Mamun al Raschid vermittelst einer vergifteten Weintraube umgebracht) starb,
aufzunehmen bestimmt war, dieselben aber zuletzt nicht erhielt, da die sabinische
Geistlichkeit die Stadt Mesched sür geeigneter zur Aufbewahrung der kostbaren
Reliquien erklärte. Auch dieses Gebäude zeigt deu äußersten Verfall, überrascht
aber noch immer durch seine Großartigkeit und Schönheit. Um ein großes
Kuppelgewölbe ziehen sich hohe Säulengänge mit Mosaikbildern, die in weißen
Quarztafeln und bunten Ziegeln ausgeführt sind. Aus den Ruinen erheben
sich zwanzig Minarets mit Bogen und Säule". Auf dem höchsten dieser schlanken
Thürme genoß der englische Reisende Conolly einen entzückenden Blick über die
Umgebung der "Stadt mit hunderttausend Gärten", die von Buchenwäldern,
Obstpflanzungen, Blumen- und Gemüsebeeten, Saatfeldern und Weinbergen wie
von einem grünen Kranze umschlungen ist. Im Innern dieser "Perle der Welt"
aber begegnete er überall unbeschreiblichem Schmutz, stehenden Sümpfen, Mist¬
haufen, Aesern von Hunden, Katzen und Eseln und anderen häßlichen Zugaben
zu den Trümmern alter architektonischer Pracht und Herrlichkeit. Auch die
Einwohnerzahl der Stadt hat sich sehr vermindert: während sie früher über
100000 betrug, berechnete sie Conolly auf etwa 45000.

Herat steht in politischer Wechselbeziehung zu Chorasscm, das niemals fest
bestimmte und allgemein anerkannte Grenzen hatte, und als dessen eigentliche
Hauptstadt Herat von den persischen Geographen angesehen wird. Die letzteren
ziehen nämlich nicht bloß das paradiesische Oaseuland am Herirud in den Um¬
kreis ihres Chorassan, sondern schieben dessen Ostgrenze bis zum Indus vor,
sodasz fast ganz Afghanistan unter diesen geographischen Begriff fällt, und wie
im Mittelalter die mongolischen Weltverwüster von Herat gegen Chorassan an¬
stürmten, so haben in neuerer Zeit die Perser über Chorassan, das sich ihrer


eng und finster, die alten stolzen Bauten zerbröckeln oder sind schon ganz zu
Trüminerstätten geworden. Allenthalben stößt man auf Spuren der Verhee¬
rungen, mit denen mongolische und persische Eroberer die Stadt heimsuchten.
Denn wegen ihrer hohen strategischen Wichtigkeit war sie von jeher ein Zank¬
apfel zwischen Persien und Afghanistan, und zu allen Zeiten mußte jeder Feld¬
herr, der von Westasien nach Indien zog, sich ihrer zu bemächtigen suchen, bevor
er seinen Marsch weiter nach Osten fortsetzen konnte. Selbst die Hauptmoschee,
ein gewaltiger Bau mit prachtvoller Ausschmückung, neigt sich schon lange dem
Einsturz zu. Der Königsgarten, ehedem als eins der Wunder der Welt ge¬
feiert, war schon vor Jahrzehnten nichts als eine Ruinenstätte zusammengefal¬
lener Paläste. Zu den merkwürdigsten Bauwerken der Stadt gehört die Mus-
sala (Andachtsort), welche die irdischen Reste eines der größten sabinischen Hei¬
ligen, des Imam Riza, der im nennten Jahrhundert (angeblich vom Chalifen
Mamun al Raschid vermittelst einer vergifteten Weintraube umgebracht) starb,
aufzunehmen bestimmt war, dieselben aber zuletzt nicht erhielt, da die sabinische
Geistlichkeit die Stadt Mesched sür geeigneter zur Aufbewahrung der kostbaren
Reliquien erklärte. Auch dieses Gebäude zeigt deu äußersten Verfall, überrascht
aber noch immer durch seine Großartigkeit und Schönheit. Um ein großes
Kuppelgewölbe ziehen sich hohe Säulengänge mit Mosaikbildern, die in weißen
Quarztafeln und bunten Ziegeln ausgeführt sind. Aus den Ruinen erheben
sich zwanzig Minarets mit Bogen und Säule». Auf dem höchsten dieser schlanken
Thürme genoß der englische Reisende Conolly einen entzückenden Blick über die
Umgebung der „Stadt mit hunderttausend Gärten", die von Buchenwäldern,
Obstpflanzungen, Blumen- und Gemüsebeeten, Saatfeldern und Weinbergen wie
von einem grünen Kranze umschlungen ist. Im Innern dieser „Perle der Welt"
aber begegnete er überall unbeschreiblichem Schmutz, stehenden Sümpfen, Mist¬
haufen, Aesern von Hunden, Katzen und Eseln und anderen häßlichen Zugaben
zu den Trümmern alter architektonischer Pracht und Herrlichkeit. Auch die
Einwohnerzahl der Stadt hat sich sehr vermindert: während sie früher über
100000 betrug, berechnete sie Conolly auf etwa 45000.

Herat steht in politischer Wechselbeziehung zu Chorasscm, das niemals fest
bestimmte und allgemein anerkannte Grenzen hatte, und als dessen eigentliche
Hauptstadt Herat von den persischen Geographen angesehen wird. Die letzteren
ziehen nämlich nicht bloß das paradiesische Oaseuland am Herirud in den Um¬
kreis ihres Chorassan, sondern schieben dessen Ostgrenze bis zum Indus vor,
sodasz fast ganz Afghanistan unter diesen geographischen Begriff fällt, und wie
im Mittelalter die mongolischen Weltverwüster von Herat gegen Chorassan an¬
stürmten, so haben in neuerer Zeit die Perser über Chorassan, das sich ihrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/451>, abgerufen am 23.07.2024.