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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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denn Wagner konnte nicht Ersatz bieten für Mendelssohn, wenigstens hat.er
bisher nicht versucht, diejenigen Gebiete musikalischen Schaffens zu bearbeiten,
auf denen Mendelssohns Lorbeeren gewachsen sind. Wenn dennoch nach allge¬
meiner Ansicht Mendelssohn dnrch Wagners Angriff mehr discreditirt worden
sein soll als Meyerbeer, so erscheint das merkwürdig genng; vielleicht läuft aber
da ein kleiner Irrthum unter. Fest steht, daß Mendelssohn längere Zeit nicht nur
beim Publikum ungemein beliebt war, sondern sich auch in die Herzen der
jüngeren Talente so eingenistet hatte, daß alles, was sie sannen und schrieben,
süßer, lieblicher Mendelssohn war. Diese Einseitigkeit war gewiß nichts weniger
als erfreulich und auch nicht ersprießlich für die Kunst; eine Reaction gegen
diese Verweichlichung war nothwendig, aber auch unausbleiblich. Möglich daß
Wagners Broschüre dazu beigetragen hat, der Mitwelt die Augen zu öffnen über
die Einförmigkeit und theilweise beinahe Schablonenhaftigkeit der Erzeugnisse
der verschiedensten Autoren der Mendelssohnschen Schule. "Es klang so Mendels¬
sohnisch, daß ich dachte, es wäre von Bennet"; es war aber von Gabe. Seien
wir nicht ungerecht gegen Mendelssohn; daß er eine durch und durch musikalische
Natur war, steht außer allem Zweifel, er war der Mozart unter den Romantikern,
Mozart besonders so ähnlich in der Frende am physischen Wohllaut der Musik,
wie außer ihm vielleicht nur Schubert. Was Wunder, wenn diese glückliche
Combination von melodischem Reichthum und Formtalent (welches letztere Schubert
nicht in gleichem Maße zugesprochen werden kann) zur Nacheiferung anspornte?
Nachdem Wagner den Frieden dieses Schweigens im schönen Tonelement dnrch
seine oQ divo-Verurth eilung der jüdischen Komponisten gestört hatte, oder --
nachdem die Ueberproduction an Werken des gleichen Genres das Interesse an
diesem abgestumpft hatte und eine gewisse Uebersättigung eingetraten war, begann
man dein verschlosseneren, seine Gedanken in weniger gemeinverständlicher Form
gebenden Schumann näher zu treten. An Stelle von Mendelssohns unge¬
schminkten, offenem Empfinden, das sich immer im Glänze eines günstigen Ge¬
schicks sonnte, sei es als lieblich duftende Blume oder als flatternde Libelle,
fand man hier ein oft genug an Beethoven gemahnendes grollendes und grüble¬
risches Sichversenken in die Räthsel des Daseins und zufolge dessen eine leiden¬
schaftlichere Ausdrucksweise -- eine vertiefte Innerlichkeit. Schumann ist uicht so
leicht nachzuahmen wie Mendelssohn; man muß ihm schon einigermaßen geistes¬
verwandt fein, wenn man seinen Ton recht treffen will. Das ist z. B. bei
Brahms der Fall. Immerhin aber gab's genug äußerliches Eigenthümliche an
Schumann, das sich angewöhnen ließ, und das man sich bald genug augewöhnte,
so besonders die canonisch oder fugirt scheinenden freien motivischen Engfüh¬
rungen und die synkopirten Rhythmen. Zur Zeit steckt wirklich unsere Kcunmer-
musikcomposition, auch wohl theilweise noch die Orchestercomposition bis über


denn Wagner konnte nicht Ersatz bieten für Mendelssohn, wenigstens hat.er
bisher nicht versucht, diejenigen Gebiete musikalischen Schaffens zu bearbeiten,
auf denen Mendelssohns Lorbeeren gewachsen sind. Wenn dennoch nach allge¬
meiner Ansicht Mendelssohn dnrch Wagners Angriff mehr discreditirt worden
sein soll als Meyerbeer, so erscheint das merkwürdig genng; vielleicht läuft aber
da ein kleiner Irrthum unter. Fest steht, daß Mendelssohn längere Zeit nicht nur
beim Publikum ungemein beliebt war, sondern sich auch in die Herzen der
jüngeren Talente so eingenistet hatte, daß alles, was sie sannen und schrieben,
süßer, lieblicher Mendelssohn war. Diese Einseitigkeit war gewiß nichts weniger
als erfreulich und auch nicht ersprießlich für die Kunst; eine Reaction gegen
diese Verweichlichung war nothwendig, aber auch unausbleiblich. Möglich daß
Wagners Broschüre dazu beigetragen hat, der Mitwelt die Augen zu öffnen über
die Einförmigkeit und theilweise beinahe Schablonenhaftigkeit der Erzeugnisse
der verschiedensten Autoren der Mendelssohnschen Schule. „Es klang so Mendels¬
sohnisch, daß ich dachte, es wäre von Bennet"; es war aber von Gabe. Seien
wir nicht ungerecht gegen Mendelssohn; daß er eine durch und durch musikalische
Natur war, steht außer allem Zweifel, er war der Mozart unter den Romantikern,
Mozart besonders so ähnlich in der Frende am physischen Wohllaut der Musik,
wie außer ihm vielleicht nur Schubert. Was Wunder, wenn diese glückliche
Combination von melodischem Reichthum und Formtalent (welches letztere Schubert
nicht in gleichem Maße zugesprochen werden kann) zur Nacheiferung anspornte?
Nachdem Wagner den Frieden dieses Schweigens im schönen Tonelement dnrch
seine oQ divo-Verurth eilung der jüdischen Komponisten gestört hatte, oder —
nachdem die Ueberproduction an Werken des gleichen Genres das Interesse an
diesem abgestumpft hatte und eine gewisse Uebersättigung eingetraten war, begann
man dein verschlosseneren, seine Gedanken in weniger gemeinverständlicher Form
gebenden Schumann näher zu treten. An Stelle von Mendelssohns unge¬
schminkten, offenem Empfinden, das sich immer im Glänze eines günstigen Ge¬
schicks sonnte, sei es als lieblich duftende Blume oder als flatternde Libelle,
fand man hier ein oft genug an Beethoven gemahnendes grollendes und grüble¬
risches Sichversenken in die Räthsel des Daseins und zufolge dessen eine leiden¬
schaftlichere Ausdrucksweise — eine vertiefte Innerlichkeit. Schumann ist uicht so
leicht nachzuahmen wie Mendelssohn; man muß ihm schon einigermaßen geistes¬
verwandt fein, wenn man seinen Ton recht treffen will. Das ist z. B. bei
Brahms der Fall. Immerhin aber gab's genug äußerliches Eigenthümliche an
Schumann, das sich angewöhnen ließ, und das man sich bald genug augewöhnte,
so besonders die canonisch oder fugirt scheinenden freien motivischen Engfüh¬
rungen und die synkopirten Rhythmen. Zur Zeit steckt wirklich unsere Kcunmer-
musikcomposition, auch wohl theilweise noch die Orchestercomposition bis über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/45>, abgerufen am 03.07.2024.