Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
berät, der Schlüssel von Indien.

Seitdem Rußland und England einander in Mittelasien näherzurücken
begonnen haben, hat die Oase Herat, über welche die am wenigsten beschwerliche
Straße führt, wenn eine Armee von Norden durch Afghanistan nach Indien
marschiren soll, schon wiederholt die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich ge¬
lenkt, und nach den Verhandlungen, die vor einigen Wochen im englischen Par¬
lamente stattfanden, ist anzunehmen, daß die Herat-Frage über kurz oder laug
wieder in den Vordergrund der politischen Dinge treten wird. So scheint es
angemessen, wenn wir uns dieselbe in ihrer geographischen, politischen und ge¬
schichtlichen Bedeutung kurz vergegenwärtigen.

Das Chanat Herat liegt im nordwestlichen Afghanistan und wird im
Westen von der persischen Provinz Chorassan, im Norden von den Wüsten und
Steppen Turkestans, im Osten von dem öden Berglande der Hasara, einem
Ausläufer des Paropamisus, sowie von der Landschaft Kabul, im Süden endlich
von der großen Salzwüste Irans und von Beludschistan begrenzt. Es hat eine
Größe von 160000 Quadratkilometern, und seine Einwohnerzahl wird auf etwa
800 000 veranschlagt. Als eine Einsenkung im iranischen Tafellande zu be¬
zeichnen, zerfällt es in zwei Hälften, von denen die nördliche im wesentlichen aus
dem Thale des Flusses Herirud besteht, während die südliche, SÄstan genannt,
sich um den Hannen oder Sares gruppirt, einen großen See oder Sumpf, der
die meisten Gewässer des südwestlichen Hindukusch in sich ausnimmt. Mit Aus¬
nahme der Niederungen an den Flüssen, von denen der Hilmend der bedeutendste,
ist dieser südliche Theil des Landes, da in Folge der seit Jahrzehnten hier
herrschenden politischen Zerrüttung und Anarchie die alten Bewässerungswerke
verfallen siud, großentheils zu einer baumlosen Wüste geworden. Dagegen ist
die Nordhälfte noch heute eine äußerst fruchtbare Landschaft, und namentlich
das von Osten nach Westen hinstreichende breite Thal des Herirud, ihr Mittel-
Punkt, verdient diese Bezeichnung. Die Bewässerung ist hier überreich. Ueberall
sprudeln Quellen und rauschen Bäche und kleine Flüsse. Dazu kommt in Folge


Grenzboten I. 1880. SK
berät, der Schlüssel von Indien.

Seitdem Rußland und England einander in Mittelasien näherzurücken
begonnen haben, hat die Oase Herat, über welche die am wenigsten beschwerliche
Straße führt, wenn eine Armee von Norden durch Afghanistan nach Indien
marschiren soll, schon wiederholt die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich ge¬
lenkt, und nach den Verhandlungen, die vor einigen Wochen im englischen Par¬
lamente stattfanden, ist anzunehmen, daß die Herat-Frage über kurz oder laug
wieder in den Vordergrund der politischen Dinge treten wird. So scheint es
angemessen, wenn wir uns dieselbe in ihrer geographischen, politischen und ge¬
schichtlichen Bedeutung kurz vergegenwärtigen.

Das Chanat Herat liegt im nordwestlichen Afghanistan und wird im
Westen von der persischen Provinz Chorassan, im Norden von den Wüsten und
Steppen Turkestans, im Osten von dem öden Berglande der Hasara, einem
Ausläufer des Paropamisus, sowie von der Landschaft Kabul, im Süden endlich
von der großen Salzwüste Irans und von Beludschistan begrenzt. Es hat eine
Größe von 160000 Quadratkilometern, und seine Einwohnerzahl wird auf etwa
800 000 veranschlagt. Als eine Einsenkung im iranischen Tafellande zu be¬
zeichnen, zerfällt es in zwei Hälften, von denen die nördliche im wesentlichen aus
dem Thale des Flusses Herirud besteht, während die südliche, SÄstan genannt,
sich um den Hannen oder Sares gruppirt, einen großen See oder Sumpf, der
die meisten Gewässer des südwestlichen Hindukusch in sich ausnimmt. Mit Aus¬
nahme der Niederungen an den Flüssen, von denen der Hilmend der bedeutendste,
ist dieser südliche Theil des Landes, da in Folge der seit Jahrzehnten hier
herrschenden politischen Zerrüttung und Anarchie die alten Bewässerungswerke
verfallen siud, großentheils zu einer baumlosen Wüste geworden. Dagegen ist
die Nordhälfte noch heute eine äußerst fruchtbare Landschaft, und namentlich
das von Osten nach Westen hinstreichende breite Thal des Herirud, ihr Mittel-
Punkt, verdient diese Bezeichnung. Die Bewässerung ist hier überreich. Ueberall
sprudeln Quellen und rauschen Bäche und kleine Flüsse. Dazu kommt in Folge


Grenzboten I. 1880. SK
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0449" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146378"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> berät, der Schlüssel von Indien.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1312"> Seitdem Rußland und England einander in Mittelasien näherzurücken<lb/>
begonnen haben, hat die Oase Herat, über welche die am wenigsten beschwerliche<lb/>
Straße führt, wenn eine Armee von Norden durch Afghanistan nach Indien<lb/>
marschiren soll, schon wiederholt die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich ge¬<lb/>
lenkt, und nach den Verhandlungen, die vor einigen Wochen im englischen Par¬<lb/>
lamente stattfanden, ist anzunehmen, daß die Herat-Frage über kurz oder laug<lb/>
wieder in den Vordergrund der politischen Dinge treten wird. So scheint es<lb/>
angemessen, wenn wir uns dieselbe in ihrer geographischen, politischen und ge¬<lb/>
schichtlichen Bedeutung kurz vergegenwärtigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1313" next="#ID_1314"> Das Chanat Herat liegt im nordwestlichen Afghanistan und wird im<lb/>
Westen von der persischen Provinz Chorassan, im Norden von den Wüsten und<lb/>
Steppen Turkestans, im Osten von dem öden Berglande der Hasara, einem<lb/>
Ausläufer des Paropamisus, sowie von der Landschaft Kabul, im Süden endlich<lb/>
von der großen Salzwüste Irans und von Beludschistan begrenzt. Es hat eine<lb/>
Größe von 160000 Quadratkilometern, und seine Einwohnerzahl wird auf etwa<lb/>
800 000 veranschlagt. Als eine Einsenkung im iranischen Tafellande zu be¬<lb/>
zeichnen, zerfällt es in zwei Hälften, von denen die nördliche im wesentlichen aus<lb/>
dem Thale des Flusses Herirud besteht, während die südliche, SÄstan genannt,<lb/>
sich um den Hannen oder Sares gruppirt, einen großen See oder Sumpf, der<lb/>
die meisten Gewässer des südwestlichen Hindukusch in sich ausnimmt. Mit Aus¬<lb/>
nahme der Niederungen an den Flüssen, von denen der Hilmend der bedeutendste,<lb/>
ist dieser südliche Theil des Landes, da in Folge der seit Jahrzehnten hier<lb/>
herrschenden politischen Zerrüttung und Anarchie die alten Bewässerungswerke<lb/>
verfallen siud, großentheils zu einer baumlosen Wüste geworden. Dagegen ist<lb/>
die Nordhälfte noch heute eine äußerst fruchtbare Landschaft, und namentlich<lb/>
das von Osten nach Westen hinstreichende breite Thal des Herirud, ihr Mittel-<lb/>
Punkt, verdient diese Bezeichnung. Die Bewässerung ist hier überreich. Ueberall<lb/>
sprudeln Quellen und rauschen Bäche und kleine Flüsse. Dazu kommt in Folge</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1880. SK</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0449] berät, der Schlüssel von Indien. Seitdem Rußland und England einander in Mittelasien näherzurücken begonnen haben, hat die Oase Herat, über welche die am wenigsten beschwerliche Straße führt, wenn eine Armee von Norden durch Afghanistan nach Indien marschiren soll, schon wiederholt die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich ge¬ lenkt, und nach den Verhandlungen, die vor einigen Wochen im englischen Par¬ lamente stattfanden, ist anzunehmen, daß die Herat-Frage über kurz oder laug wieder in den Vordergrund der politischen Dinge treten wird. So scheint es angemessen, wenn wir uns dieselbe in ihrer geographischen, politischen und ge¬ schichtlichen Bedeutung kurz vergegenwärtigen. Das Chanat Herat liegt im nordwestlichen Afghanistan und wird im Westen von der persischen Provinz Chorassan, im Norden von den Wüsten und Steppen Turkestans, im Osten von dem öden Berglande der Hasara, einem Ausläufer des Paropamisus, sowie von der Landschaft Kabul, im Süden endlich von der großen Salzwüste Irans und von Beludschistan begrenzt. Es hat eine Größe von 160000 Quadratkilometern, und seine Einwohnerzahl wird auf etwa 800 000 veranschlagt. Als eine Einsenkung im iranischen Tafellande zu be¬ zeichnen, zerfällt es in zwei Hälften, von denen die nördliche im wesentlichen aus dem Thale des Flusses Herirud besteht, während die südliche, SÄstan genannt, sich um den Hannen oder Sares gruppirt, einen großen See oder Sumpf, der die meisten Gewässer des südwestlichen Hindukusch in sich ausnimmt. Mit Aus¬ nahme der Niederungen an den Flüssen, von denen der Hilmend der bedeutendste, ist dieser südliche Theil des Landes, da in Folge der seit Jahrzehnten hier herrschenden politischen Zerrüttung und Anarchie die alten Bewässerungswerke verfallen siud, großentheils zu einer baumlosen Wüste geworden. Dagegen ist die Nordhälfte noch heute eine äußerst fruchtbare Landschaft, und namentlich das von Osten nach Westen hinstreichende breite Thal des Herirud, ihr Mittel- Punkt, verdient diese Bezeichnung. Die Bewässerung ist hier überreich. Ueberall sprudeln Quellen und rauschen Bäche und kleine Flüsse. Dazu kommt in Folge Grenzboten I. 1880. SK

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/449
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/449>, abgerufen am 22.07.2024.