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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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der allseitige Fractionswirrwarr geschaffen, aus dem freilich auch herauszu¬
kommen ist, aber immer mit Aergerniß und mangelhaftem Erfolg.

Die Stellung der Nationalliberalen zum Reichskanzler ist wieder einmal
das Thema der Session. Von Seiten des Kanzlers ist viel geschehen, eine dem
Vaterlande wohlthätige Harmonie herzustellen. Die nationalliberale Introduction
zeigt lauter Dissonanzen, seitdem man das Bündniß mit dein Centrum für be¬
seitigt hält ^ . Ist das wohl Politik, patriotische Politik?




Literatur.
Das Nibelungenlied übersetzt von L. Freitag. Berlin, Friedberg K Mode,
1879.

"Mittelhochdeutsche Gedichte auch nur erträglich ins Neuhochdeutsche zu über¬
setzen, ist ein Ding der Unmöglichkeit: es kann nicht geschehen, ohne daß der schönste
Hauch und Duft mit unbarmherziger Hand davon abgestreift wird, und was dann
übrig bleibt, ist höchstens ein mattes Abbild des ursprünglichen Werkes." Diese
Worte Franz Pfeiffers scheint jeder neue Versuch, durch Übertragung "die Gleich-
giltigkeit des allgemeiner gebildeten deutschen Publikums gegen seine besten Schätze
an mittelalterlicher Bolkspocfie" zu überwinden, nur von neuen: zu bestätigen. Und
doch war der, welcher jenen Ausspruch that, nicht einer der engherzigen, im Kasten¬
geiste befangenen Philologen, die es als Entweihung ihrer Wissenschaft ansehen,
die besten unserer alten Dichtungen dem Verständnisse weiterer Kreise unseres Volkes,
dessen eigensten Wesen sie ja doch entwachsen sind, und welches ein Anrecht auf
ihren Wiedererwerb hat, bequem zu erschließen; vielmehr war es gerade Pfeiffer,
der allen Gelehrten-Borurtheilen zum Trotze auch dem Gebildeten, den ernste Nei¬
gung und Begeisterung für die Schätze unserer Vorzeit erfüllt, die Mittel an die
Hand gab, auch ohne specifisch philologisches Wissen zu ausreichendem Verständnisse
und reinem Genusse unserer nnttelaltcrlichcn Dichtungen zu gelangen. Vielleicht
war es in erster Linie die Wahrnehmung, daß der Werthschätzung unserer älteren
Literatur beim größeren Publikum durch nichts so sehr geschadet werde als durch
die zwar gut gemeinten, im Grunde aber schädlichen Uebersetzungen, welche Pfeiffer
bestimmte, mit seinen erklärenden Ausgaben mittelhochdeutscher Classiker hervorzu¬
treten. Mag das in diesen Ausgaben befolgte Verfahren auch nicht in Allein über
jeden Tadel erhaben sein, jedenfalls gebührt Pfeiffer das unschätzbare Verdienst,
alle jene Caricaturen von Uebersetzungen für diejenigen unter den Gebildeten über¬
flüssig gemacht zu haben, denen es ernstlich nicht bloß um eine oberflächliche Kennt¬
niß unserer mittelhochdeutschen Gedichte, sondern um ein selbständiges Urtheil über
ihren dichterischen Werth zu thun ist. In unseren Augen machen sich die Ueber¬
setzer, falls sie nicht eben nur eine Art Commentar zum Originale bieten wollen,
zu Mitschuldigen all der geringschätzigen Urtheile, die in vielen Kreisen noch über
den Werth unserer älteren Literatur gcing und gäbe sind. Wir verargen es Keinem,
dem die Lectüre Simrockscher Uebersetzungen die vielgepriesenen Dichtungen eines
Walther von der Vogelweide, des Nibelungenliedes u. a. gründlich verleidet hat.


der allseitige Fractionswirrwarr geschaffen, aus dem freilich auch herauszu¬
kommen ist, aber immer mit Aergerniß und mangelhaftem Erfolg.

Die Stellung der Nationalliberalen zum Reichskanzler ist wieder einmal
das Thema der Session. Von Seiten des Kanzlers ist viel geschehen, eine dem
Vaterlande wohlthätige Harmonie herzustellen. Die nationalliberale Introduction
zeigt lauter Dissonanzen, seitdem man das Bündniß mit dein Centrum für be¬
seitigt hält ^ . Ist das wohl Politik, patriotische Politik?




Literatur.
Das Nibelungenlied übersetzt von L. Freitag. Berlin, Friedberg K Mode,
1879.

„Mittelhochdeutsche Gedichte auch nur erträglich ins Neuhochdeutsche zu über¬
setzen, ist ein Ding der Unmöglichkeit: es kann nicht geschehen, ohne daß der schönste
Hauch und Duft mit unbarmherziger Hand davon abgestreift wird, und was dann
übrig bleibt, ist höchstens ein mattes Abbild des ursprünglichen Werkes." Diese
Worte Franz Pfeiffers scheint jeder neue Versuch, durch Übertragung „die Gleich-
giltigkeit des allgemeiner gebildeten deutschen Publikums gegen seine besten Schätze
an mittelalterlicher Bolkspocfie" zu überwinden, nur von neuen: zu bestätigen. Und
doch war der, welcher jenen Ausspruch that, nicht einer der engherzigen, im Kasten¬
geiste befangenen Philologen, die es als Entweihung ihrer Wissenschaft ansehen,
die besten unserer alten Dichtungen dem Verständnisse weiterer Kreise unseres Volkes,
dessen eigensten Wesen sie ja doch entwachsen sind, und welches ein Anrecht auf
ihren Wiedererwerb hat, bequem zu erschließen; vielmehr war es gerade Pfeiffer,
der allen Gelehrten-Borurtheilen zum Trotze auch dem Gebildeten, den ernste Nei¬
gung und Begeisterung für die Schätze unserer Vorzeit erfüllt, die Mittel an die
Hand gab, auch ohne specifisch philologisches Wissen zu ausreichendem Verständnisse
und reinem Genusse unserer nnttelaltcrlichcn Dichtungen zu gelangen. Vielleicht
war es in erster Linie die Wahrnehmung, daß der Werthschätzung unserer älteren
Literatur beim größeren Publikum durch nichts so sehr geschadet werde als durch
die zwar gut gemeinten, im Grunde aber schädlichen Uebersetzungen, welche Pfeiffer
bestimmte, mit seinen erklärenden Ausgaben mittelhochdeutscher Classiker hervorzu¬
treten. Mag das in diesen Ausgaben befolgte Verfahren auch nicht in Allein über
jeden Tadel erhaben sein, jedenfalls gebührt Pfeiffer das unschätzbare Verdienst,
alle jene Caricaturen von Uebersetzungen für diejenigen unter den Gebildeten über¬
flüssig gemacht zu haben, denen es ernstlich nicht bloß um eine oberflächliche Kennt¬
niß unserer mittelhochdeutschen Gedichte, sondern um ein selbständiges Urtheil über
ihren dichterischen Werth zu thun ist. In unseren Augen machen sich die Ueber¬
setzer, falls sie nicht eben nur eine Art Commentar zum Originale bieten wollen,
zu Mitschuldigen all der geringschätzigen Urtheile, die in vielen Kreisen noch über
den Werth unserer älteren Literatur gcing und gäbe sind. Wir verargen es Keinem,
dem die Lectüre Simrockscher Uebersetzungen die vielgepriesenen Dichtungen eines
Walther von der Vogelweide, des Nibelungenliedes u. a. gründlich verleidet hat.


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[0358] der allseitige Fractionswirrwarr geschaffen, aus dem freilich auch herauszu¬ kommen ist, aber immer mit Aergerniß und mangelhaftem Erfolg. Die Stellung der Nationalliberalen zum Reichskanzler ist wieder einmal das Thema der Session. Von Seiten des Kanzlers ist viel geschehen, eine dem Vaterlande wohlthätige Harmonie herzustellen. Die nationalliberale Introduction zeigt lauter Dissonanzen, seitdem man das Bündniß mit dein Centrum für be¬ seitigt hält ^ . Ist das wohl Politik, patriotische Politik? Literatur. Das Nibelungenlied übersetzt von L. Freitag. Berlin, Friedberg K Mode, 1879. „Mittelhochdeutsche Gedichte auch nur erträglich ins Neuhochdeutsche zu über¬ setzen, ist ein Ding der Unmöglichkeit: es kann nicht geschehen, ohne daß der schönste Hauch und Duft mit unbarmherziger Hand davon abgestreift wird, und was dann übrig bleibt, ist höchstens ein mattes Abbild des ursprünglichen Werkes." Diese Worte Franz Pfeiffers scheint jeder neue Versuch, durch Übertragung „die Gleich- giltigkeit des allgemeiner gebildeten deutschen Publikums gegen seine besten Schätze an mittelalterlicher Bolkspocfie" zu überwinden, nur von neuen: zu bestätigen. Und doch war der, welcher jenen Ausspruch that, nicht einer der engherzigen, im Kasten¬ geiste befangenen Philologen, die es als Entweihung ihrer Wissenschaft ansehen, die besten unserer alten Dichtungen dem Verständnisse weiterer Kreise unseres Volkes, dessen eigensten Wesen sie ja doch entwachsen sind, und welches ein Anrecht auf ihren Wiedererwerb hat, bequem zu erschließen; vielmehr war es gerade Pfeiffer, der allen Gelehrten-Borurtheilen zum Trotze auch dem Gebildeten, den ernste Nei¬ gung und Begeisterung für die Schätze unserer Vorzeit erfüllt, die Mittel an die Hand gab, auch ohne specifisch philologisches Wissen zu ausreichendem Verständnisse und reinem Genusse unserer nnttelaltcrlichcn Dichtungen zu gelangen. Vielleicht war es in erster Linie die Wahrnehmung, daß der Werthschätzung unserer älteren Literatur beim größeren Publikum durch nichts so sehr geschadet werde als durch die zwar gut gemeinten, im Grunde aber schädlichen Uebersetzungen, welche Pfeiffer bestimmte, mit seinen erklärenden Ausgaben mittelhochdeutscher Classiker hervorzu¬ treten. Mag das in diesen Ausgaben befolgte Verfahren auch nicht in Allein über jeden Tadel erhaben sein, jedenfalls gebührt Pfeiffer das unschätzbare Verdienst, alle jene Caricaturen von Uebersetzungen für diejenigen unter den Gebildeten über¬ flüssig gemacht zu haben, denen es ernstlich nicht bloß um eine oberflächliche Kennt¬ niß unserer mittelhochdeutschen Gedichte, sondern um ein selbständiges Urtheil über ihren dichterischen Werth zu thun ist. In unseren Augen machen sich die Ueber¬ setzer, falls sie nicht eben nur eine Art Commentar zum Originale bieten wollen, zu Mitschuldigen all der geringschätzigen Urtheile, die in vielen Kreisen noch über den Werth unserer älteren Literatur gcing und gäbe sind. Wir verargen es Keinem, dem die Lectüre Simrockscher Uebersetzungen die vielgepriesenen Dichtungen eines Walther von der Vogelweide, des Nibelungenliedes u. a. gründlich verleidet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/358>, abgerufen am 03.07.2024.