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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Halse möglich ist -- eine für den Gesammteindruck der Statue entscheidende
Bewegung. Auch der Unterkörper zeigt des Bestreben, von links nach rechts
zu weichen. Die Last des ganzen Körpers ruht auf dem rechten Beine. Aber
die Hauptlinie des Standbeines ist keine senkrechte; sie geht vielmehr in starkem
Bogen über den Fuß hinaus Nach rechts, zugleich in entschiedenem Widerspruch
mit der durch deu anatomischen Bau des Weibes indicirten Linie des rechten
Unterschenkels nach linkshin. Das linke Bein stützt sich auf den erhobenen
Fuß und drängt das Knie zugleich möglichst weit nach vorn und nach rechts.
Nimmt man noch dazu die bei der Vorderansicht sich ergebende steile Profil-
linie auf der linken Seite des Oberkörpers im kräftigen Gegensatz zu der ge¬
bogenen der rechten Seite und im Zusammenhange damit die hoch erhobene
linke Schulter im Gegensatz zu der gesenkten, nach rechts und vorn vorgebeugten
rechten Schulter, so ergiebt sich, daß die Bewegung eine complicirte und eine
energische ist, derart, daß das Zusammentreffen solcher Gegensätze nur denkbar
ist in einem Momente, welcher als Uebergang aus einer Lage in die andere
aufzufassen ist, nicht aber als eine Constellation, welche als dauernde Körper¬
haltung möglich ist; mit andern Worten: die Darstellungsweise ist die drama¬
tische, nicht die typische. Da nun die Darstellungsweise sich als Folge aus
dem Grundmotiv ergiebt, so muß dieses selbst dramatischer Natur fein, d. h. der
eigentliche Gegenstand der Darstellung ist eine Handlung, ein einzelner, in seinem
raschen Vorübereilen vom Künstler erfaßter und festgehaltener Augenblick, aus
welchem wir uns Ursache und Folge zu ergänzen, den Verlauf der Handlung
durch Uebersetzung aus der an den Moment gefesselten bildenden Kunst in die
sich in der Zeit bewegende Vorstellungsthätigkeit auszubauen haben.

Ist dieses Ergebniß richtig, so folgt daraus mit Nothwendigkeit, daß alle
diejenigen Auffassungs- und Ergänzungsweisen unrichtig sein müssen, welche auf
der Voraussetzung der typischen Darstellungsweise beruhen: sie treten mit dem
sich aus der Art der Bewegung des Körpers mit Sicherheit ergebenden Charakter
des Grundmotivs einer Handlung in unlöslichen Widerspruch. Dahin gehören
die Ergänzungsversuche, welche der Statue in die zu ergänzende linke Hand den
Speer, den Spiegel, den Apfel geben oder sie mit der rechten Hand auf den
mit der linken oben angefaßten, auf den linken Oberschenkel gestützten Schild
schreiben oder sie sich in diesem spiegeln lassen. Keiner dieser Versuche vermag
die energische, complicirte Körperbewegung zu erklären, weil sie bei keiner dieser
Ergänzungen nothwendig ist; ja, sie wäre sogar bei jedem derselben geradezu
fehlerhaft. Alle diese Versuche sind also aufzugeben, es sei denn, daß man, um
bei ihnen zu verharren, lieber dem Künstler die Stümperei eines inneren Wider¬
spruchs zutraut, die mit der sonstigen Trefflichkeit des Werkes nicht im Ein¬
klang steht. Dann aber gebe man es auf, die melische Statue als Meisterwerk


Grenzboten I. 1880. 4

Halse möglich ist — eine für den Gesammteindruck der Statue entscheidende
Bewegung. Auch der Unterkörper zeigt des Bestreben, von links nach rechts
zu weichen. Die Last des ganzen Körpers ruht auf dem rechten Beine. Aber
die Hauptlinie des Standbeines ist keine senkrechte; sie geht vielmehr in starkem
Bogen über den Fuß hinaus Nach rechts, zugleich in entschiedenem Widerspruch
mit der durch deu anatomischen Bau des Weibes indicirten Linie des rechten
Unterschenkels nach linkshin. Das linke Bein stützt sich auf den erhobenen
Fuß und drängt das Knie zugleich möglichst weit nach vorn und nach rechts.
Nimmt man noch dazu die bei der Vorderansicht sich ergebende steile Profil-
linie auf der linken Seite des Oberkörpers im kräftigen Gegensatz zu der ge¬
bogenen der rechten Seite und im Zusammenhange damit die hoch erhobene
linke Schulter im Gegensatz zu der gesenkten, nach rechts und vorn vorgebeugten
rechten Schulter, so ergiebt sich, daß die Bewegung eine complicirte und eine
energische ist, derart, daß das Zusammentreffen solcher Gegensätze nur denkbar
ist in einem Momente, welcher als Uebergang aus einer Lage in die andere
aufzufassen ist, nicht aber als eine Constellation, welche als dauernde Körper¬
haltung möglich ist; mit andern Worten: die Darstellungsweise ist die drama¬
tische, nicht die typische. Da nun die Darstellungsweise sich als Folge aus
dem Grundmotiv ergiebt, so muß dieses selbst dramatischer Natur fein, d. h. der
eigentliche Gegenstand der Darstellung ist eine Handlung, ein einzelner, in seinem
raschen Vorübereilen vom Künstler erfaßter und festgehaltener Augenblick, aus
welchem wir uns Ursache und Folge zu ergänzen, den Verlauf der Handlung
durch Uebersetzung aus der an den Moment gefesselten bildenden Kunst in die
sich in der Zeit bewegende Vorstellungsthätigkeit auszubauen haben.

Ist dieses Ergebniß richtig, so folgt daraus mit Nothwendigkeit, daß alle
diejenigen Auffassungs- und Ergänzungsweisen unrichtig sein müssen, welche auf
der Voraussetzung der typischen Darstellungsweise beruhen: sie treten mit dem
sich aus der Art der Bewegung des Körpers mit Sicherheit ergebenden Charakter
des Grundmotivs einer Handlung in unlöslichen Widerspruch. Dahin gehören
die Ergänzungsversuche, welche der Statue in die zu ergänzende linke Hand den
Speer, den Spiegel, den Apfel geben oder sie mit der rechten Hand auf den
mit der linken oben angefaßten, auf den linken Oberschenkel gestützten Schild
schreiben oder sie sich in diesem spiegeln lassen. Keiner dieser Versuche vermag
die energische, complicirte Körperbewegung zu erklären, weil sie bei keiner dieser
Ergänzungen nothwendig ist; ja, sie wäre sogar bei jedem derselben geradezu
fehlerhaft. Alle diese Versuche sind also aufzugeben, es sei denn, daß man, um
bei ihnen zu verharren, lieber dem Künstler die Stümperei eines inneren Wider¬
spruchs zutraut, die mit der sonstigen Trefflichkeit des Werkes nicht im Ein¬
klang steht. Dann aber gebe man es auf, die melische Statue als Meisterwerk


Grenzboten I. 1880. 4
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[0033] Halse möglich ist — eine für den Gesammteindruck der Statue entscheidende Bewegung. Auch der Unterkörper zeigt des Bestreben, von links nach rechts zu weichen. Die Last des ganzen Körpers ruht auf dem rechten Beine. Aber die Hauptlinie des Standbeines ist keine senkrechte; sie geht vielmehr in starkem Bogen über den Fuß hinaus Nach rechts, zugleich in entschiedenem Widerspruch mit der durch deu anatomischen Bau des Weibes indicirten Linie des rechten Unterschenkels nach linkshin. Das linke Bein stützt sich auf den erhobenen Fuß und drängt das Knie zugleich möglichst weit nach vorn und nach rechts. Nimmt man noch dazu die bei der Vorderansicht sich ergebende steile Profil- linie auf der linken Seite des Oberkörpers im kräftigen Gegensatz zu der ge¬ bogenen der rechten Seite und im Zusammenhange damit die hoch erhobene linke Schulter im Gegensatz zu der gesenkten, nach rechts und vorn vorgebeugten rechten Schulter, so ergiebt sich, daß die Bewegung eine complicirte und eine energische ist, derart, daß das Zusammentreffen solcher Gegensätze nur denkbar ist in einem Momente, welcher als Uebergang aus einer Lage in die andere aufzufassen ist, nicht aber als eine Constellation, welche als dauernde Körper¬ haltung möglich ist; mit andern Worten: die Darstellungsweise ist die drama¬ tische, nicht die typische. Da nun die Darstellungsweise sich als Folge aus dem Grundmotiv ergiebt, so muß dieses selbst dramatischer Natur fein, d. h. der eigentliche Gegenstand der Darstellung ist eine Handlung, ein einzelner, in seinem raschen Vorübereilen vom Künstler erfaßter und festgehaltener Augenblick, aus welchem wir uns Ursache und Folge zu ergänzen, den Verlauf der Handlung durch Uebersetzung aus der an den Moment gefesselten bildenden Kunst in die sich in der Zeit bewegende Vorstellungsthätigkeit auszubauen haben. Ist dieses Ergebniß richtig, so folgt daraus mit Nothwendigkeit, daß alle diejenigen Auffassungs- und Ergänzungsweisen unrichtig sein müssen, welche auf der Voraussetzung der typischen Darstellungsweise beruhen: sie treten mit dem sich aus der Art der Bewegung des Körpers mit Sicherheit ergebenden Charakter des Grundmotivs einer Handlung in unlöslichen Widerspruch. Dahin gehören die Ergänzungsversuche, welche der Statue in die zu ergänzende linke Hand den Speer, den Spiegel, den Apfel geben oder sie mit der rechten Hand auf den mit der linken oben angefaßten, auf den linken Oberschenkel gestützten Schild schreiben oder sie sich in diesem spiegeln lassen. Keiner dieser Versuche vermag die energische, complicirte Körperbewegung zu erklären, weil sie bei keiner dieser Ergänzungen nothwendig ist; ja, sie wäre sogar bei jedem derselben geradezu fehlerhaft. Alle diese Versuche sind also aufzugeben, es sei denn, daß man, um bei ihnen zu verharren, lieber dem Künstler die Stümperei eines inneren Wider¬ spruchs zutraut, die mit der sonstigen Trefflichkeit des Werkes nicht im Ein¬ klang steht. Dann aber gebe man es auf, die melische Statue als Meisterwerk Grenzboten I. 1880. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/33>, abgerufen am 23.07.2024.