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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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selten und Beschäftigungen denen in Deir El Kaniar ähnlich sein. Die größte
jüdische Colonie Syriens ist die in Damaskus, welche über 5000 Mitglieder zählt
und 8 Synagogen hat. Sie besteht fast ausschließlich aus Sephardim; nur einige
zwanzig Familien sind Unterthanen Oesterreichs, Italiens, Frankreichs und Preußens.
Ungefähr ebenso verhält sich's mit Hcileb, wo 4800, mit Antakia (Antiochien), wo
etwa 200, und mit Aintab, wo 300 Juden leben. Auf Bagdad rechnet man
5500; in Mossul wohnen etwa 1000, in Nisibin 250, in Erbil (Arbela) 800, in
Kerkuk über 1000, in Basra ungefähr 150 Juden. Auch in Suk Esch schluch
und einigen anderen Ortschaften am Euphrat, wo Märkte sind, befinden sich solche
Ansiedelungen.

In Persien wohnen seit sehr alter Zeit zahlreiche Jsraeliten. In Buschir
z. B. befinden sich nach Petermanns "Reisen im Orient" 30, in Barasgun 12, in
Kaserun 10, in Kulpagun 61, in Schiras 80, in Serkun 30, in Jspahan 100, in
Hamadan gegen 1000 jüdische Familien, und auch in Jesd und Kerind giebt es
denen mehrere. Alle leben hier unter schwerem Druck und sind fortwährend Mi߬
handlungen von Seiten der sabinischen Bevölkerung ausgesetzt, weshalb schon
Tausende ihren Glauben abgeschworen haben und Muslime geworden sind, was
namentlich von denen gilt, die sich in Lar und Mesched niedergelassen haben. Viele
glauben an die Seelenwanderung, die in gewissen kabbalistischen Schriften vorgetragen
wird. Auffallend ist der Dialect der Juden von Schiras, der von ihren Stamm¬
genossen aus andern Orten nicht verstanden wird. "Merkwürdig war mir," sagt
Petermann, "daß ich bei ihnen wie auch bei den Juden anderer Städte Persiens
öfters das deutsche Wort Jahreszeit hörte, was vielleicht zum Beweise dienen kann,
daß sie aus einer Mischung von Polen her eingewanderter und einheimischer
Elemente hervorgegangen sind" -- eine Vermuthung, die durch jenen Glauben an
die Seelenwanderung unterstützt wird; denn derselbe herrscht auch unter den west¬
russischen und galizischen Chassidim.

Auch im Osten von Persien existiren größere und kleinere Judencolonien. Wir
treffen auf solche in Afghanistan, wo sie von Kabul bis nach Madras, Bombay
und Kalkutta handeln, in der Bucharei, wo sie bürgerliche Freiheiten genießen und
gute Metallarbeiten und Seidenstoffe liefern, in Ostindien, wo sie schon ziemlich
früh erwähnt werden, in Kochinchina, wo sie wahrscheinlich mit den Portugiesen
Fuß faßten, und wo sie sich mit Ackerbau und Handwerken nähren. Selbst in
China findet man einzelne jüdische Gemeinden.

Nicht ganz unmöglich, aber bis jetzt unerweislich ist es, daß unter diesen,
Mittel- und ostasiatischen Juden sich einige Nachkommen der verlorenen zehn Stämme
befinden. Die Mythenbildung aber, die sich an alles Ferne und schwer Erklärliche
knüpft, ist damit uicht zufrieden gewesen und hat alle im Osten vom einstigen Exil
der Bewohner des Reiches Israel gelegenen Landschaften mit Fabeln angefüllt,
welche die Urenkel der Verbannten dort als Nation wohnen lassen und von Juden¬
königen in Indien und Birma berichten. Fränkl theilt eine Anzahl solcher Märchen
mit, von denen wir ein besonders charakteristisches auswählen.


selten und Beschäftigungen denen in Deir El Kaniar ähnlich sein. Die größte
jüdische Colonie Syriens ist die in Damaskus, welche über 5000 Mitglieder zählt
und 8 Synagogen hat. Sie besteht fast ausschließlich aus Sephardim; nur einige
zwanzig Familien sind Unterthanen Oesterreichs, Italiens, Frankreichs und Preußens.
Ungefähr ebenso verhält sich's mit Hcileb, wo 4800, mit Antakia (Antiochien), wo
etwa 200, und mit Aintab, wo 300 Juden leben. Auf Bagdad rechnet man
5500; in Mossul wohnen etwa 1000, in Nisibin 250, in Erbil (Arbela) 800, in
Kerkuk über 1000, in Basra ungefähr 150 Juden. Auch in Suk Esch schluch
und einigen anderen Ortschaften am Euphrat, wo Märkte sind, befinden sich solche
Ansiedelungen.

In Persien wohnen seit sehr alter Zeit zahlreiche Jsraeliten. In Buschir
z. B. befinden sich nach Petermanns „Reisen im Orient" 30, in Barasgun 12, in
Kaserun 10, in Kulpagun 61, in Schiras 80, in Serkun 30, in Jspahan 100, in
Hamadan gegen 1000 jüdische Familien, und auch in Jesd und Kerind giebt es
denen mehrere. Alle leben hier unter schwerem Druck und sind fortwährend Mi߬
handlungen von Seiten der sabinischen Bevölkerung ausgesetzt, weshalb schon
Tausende ihren Glauben abgeschworen haben und Muslime geworden sind, was
namentlich von denen gilt, die sich in Lar und Mesched niedergelassen haben. Viele
glauben an die Seelenwanderung, die in gewissen kabbalistischen Schriften vorgetragen
wird. Auffallend ist der Dialect der Juden von Schiras, der von ihren Stamm¬
genossen aus andern Orten nicht verstanden wird. „Merkwürdig war mir," sagt
Petermann, „daß ich bei ihnen wie auch bei den Juden anderer Städte Persiens
öfters das deutsche Wort Jahreszeit hörte, was vielleicht zum Beweise dienen kann,
daß sie aus einer Mischung von Polen her eingewanderter und einheimischer
Elemente hervorgegangen sind" — eine Vermuthung, die durch jenen Glauben an
die Seelenwanderung unterstützt wird; denn derselbe herrscht auch unter den west¬
russischen und galizischen Chassidim.

Auch im Osten von Persien existiren größere und kleinere Judencolonien. Wir
treffen auf solche in Afghanistan, wo sie von Kabul bis nach Madras, Bombay
und Kalkutta handeln, in der Bucharei, wo sie bürgerliche Freiheiten genießen und
gute Metallarbeiten und Seidenstoffe liefern, in Ostindien, wo sie schon ziemlich
früh erwähnt werden, in Kochinchina, wo sie wahrscheinlich mit den Portugiesen
Fuß faßten, und wo sie sich mit Ackerbau und Handwerken nähren. Selbst in
China findet man einzelne jüdische Gemeinden.

Nicht ganz unmöglich, aber bis jetzt unerweislich ist es, daß unter diesen,
Mittel- und ostasiatischen Juden sich einige Nachkommen der verlorenen zehn Stämme
befinden. Die Mythenbildung aber, die sich an alles Ferne und schwer Erklärliche
knüpft, ist damit uicht zufrieden gewesen und hat alle im Osten vom einstigen Exil
der Bewohner des Reiches Israel gelegenen Landschaften mit Fabeln angefüllt,
welche die Urenkel der Verbannten dort als Nation wohnen lassen und von Juden¬
königen in Indien und Birma berichten. Fränkl theilt eine Anzahl solcher Märchen
mit, von denen wir ein besonders charakteristisches auswählen.


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[0318] selten und Beschäftigungen denen in Deir El Kaniar ähnlich sein. Die größte jüdische Colonie Syriens ist die in Damaskus, welche über 5000 Mitglieder zählt und 8 Synagogen hat. Sie besteht fast ausschließlich aus Sephardim; nur einige zwanzig Familien sind Unterthanen Oesterreichs, Italiens, Frankreichs und Preußens. Ungefähr ebenso verhält sich's mit Hcileb, wo 4800, mit Antakia (Antiochien), wo etwa 200, und mit Aintab, wo 300 Juden leben. Auf Bagdad rechnet man 5500; in Mossul wohnen etwa 1000, in Nisibin 250, in Erbil (Arbela) 800, in Kerkuk über 1000, in Basra ungefähr 150 Juden. Auch in Suk Esch schluch und einigen anderen Ortschaften am Euphrat, wo Märkte sind, befinden sich solche Ansiedelungen. In Persien wohnen seit sehr alter Zeit zahlreiche Jsraeliten. In Buschir z. B. befinden sich nach Petermanns „Reisen im Orient" 30, in Barasgun 12, in Kaserun 10, in Kulpagun 61, in Schiras 80, in Serkun 30, in Jspahan 100, in Hamadan gegen 1000 jüdische Familien, und auch in Jesd und Kerind giebt es denen mehrere. Alle leben hier unter schwerem Druck und sind fortwährend Mi߬ handlungen von Seiten der sabinischen Bevölkerung ausgesetzt, weshalb schon Tausende ihren Glauben abgeschworen haben und Muslime geworden sind, was namentlich von denen gilt, die sich in Lar und Mesched niedergelassen haben. Viele glauben an die Seelenwanderung, die in gewissen kabbalistischen Schriften vorgetragen wird. Auffallend ist der Dialect der Juden von Schiras, der von ihren Stamm¬ genossen aus andern Orten nicht verstanden wird. „Merkwürdig war mir," sagt Petermann, „daß ich bei ihnen wie auch bei den Juden anderer Städte Persiens öfters das deutsche Wort Jahreszeit hörte, was vielleicht zum Beweise dienen kann, daß sie aus einer Mischung von Polen her eingewanderter und einheimischer Elemente hervorgegangen sind" — eine Vermuthung, die durch jenen Glauben an die Seelenwanderung unterstützt wird; denn derselbe herrscht auch unter den west¬ russischen und galizischen Chassidim. Auch im Osten von Persien existiren größere und kleinere Judencolonien. Wir treffen auf solche in Afghanistan, wo sie von Kabul bis nach Madras, Bombay und Kalkutta handeln, in der Bucharei, wo sie bürgerliche Freiheiten genießen und gute Metallarbeiten und Seidenstoffe liefern, in Ostindien, wo sie schon ziemlich früh erwähnt werden, in Kochinchina, wo sie wahrscheinlich mit den Portugiesen Fuß faßten, und wo sie sich mit Ackerbau und Handwerken nähren. Selbst in China findet man einzelne jüdische Gemeinden. Nicht ganz unmöglich, aber bis jetzt unerweislich ist es, daß unter diesen, Mittel- und ostasiatischen Juden sich einige Nachkommen der verlorenen zehn Stämme befinden. Die Mythenbildung aber, die sich an alles Ferne und schwer Erklärliche knüpft, ist damit uicht zufrieden gewesen und hat alle im Osten vom einstigen Exil der Bewohner des Reiches Israel gelegenen Landschaften mit Fabeln angefüllt, welche die Urenkel der Verbannten dort als Nation wohnen lassen und von Juden¬ königen in Indien und Birma berichten. Fränkl theilt eine Anzahl solcher Märchen mit, von denen wir ein besonders charakteristisches auswählen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/318>, abgerufen am 23.07.2024.