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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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ist, was es nicht wäre, wenn ihm die innere Nothwendigkeit, die Folgerichtigkeit
abginge. Ist aber die melische Statue ein Kunstwerk in diesem Sinne, so ist
der Weg ihrer Entstehung naturgemäß der gewesen, daß der Künstler von dem
Keimpunkte aus geschaffen hat, so daß das Hauptmotiv für die Gestaltung aller
einzelnen Theile des Werkes maßgebend geworden ist und die sich ergebenden
Nebenmotive nur eine Folge dieses Hauptmotivs sind, dieses somit in ihrer
Weise und nach Maßgabe ihrer Eigenthümlichkeit wiederspiegeln. Die Haltung
einer Hand, eines Fußes, des Kopfes, die Fältelung des Gewandes mußte gerade
so werden, weil der Künstler das bestimmte Hauptmotiv gewählt hatte. Springt
dieses, in Folge der Zertrümmerung einzelner Theile der Statue, nicht sogleich
in die Augen, so muß, wegen des vorhandenen nothwendigen Zusammenhanges
aller Theile und der allen gemeinsamen einheitlichen Quelle, ein Rückschluß aus
den Nebenmotiven auf das Hauptmotiv möglich sei". Je mehr die Nebeu-
motive auf ein und dieselbe Ursache hinweisen, je übereinstimmender sie sich alle
aus Derselben Ursache erklären lassen, um so sicherer ist in dieser bewegenden
Ursache das Hauptmotiv zu erkennen. Da bei der melischer Statue grade die¬
jenigen Theile fehlen, welche das Hauptmotiv unbestreitbar aufklären müßten
-- die Arme mit den Händen --, so ist bei der Untersuchung hier der umgekehrte
Weg von dem einzuschlagen, welchen der Künstler gegangen: er ging von dem
Hauptmotiv aus und gestaltete darnach die Nebenmotive; wir gehen von diesen
aus und erkennen aus ihnen jenes.

Das Hauptmotiv konnte von Anfang an der Art nach verschieden sein.
Entweder konnte es in der Absicht des Künstlers liegen, eine Persönlichkeit
ihrem Charakter, ihrem Wesen nach darzustellen. Da mußte es ihm darauf
ankommen, solche Nebenmotive zu wählen, welche zu der Erkenntniß des
Charakters, des Wesens der Persönlichkeit hinführten. Diese Nebenmotive konnten
äußerlicher Natur sein, wie Symbole; sie konnten aber auch mehr innerlicher
Art sein, indem sie eine Bewegung, eine Handlung darstellten, welche der Persön¬
lichkeit so eigenthümlich war, daß sie sicher an ihr erkannt werden konnte. Diese
Bewegung diente jedoch nnr als Mittel, um das Wesen zu charakteristren, war
aber nicht der Gegenstand der Darstellung, das Hauptmotiv. Sie mußte dem¬
gemäß so dargestellt werden, daß man sie leicht als eine nicht in einem bestimmten
Zeitmoment, sondern als gleichsam außer der Zeit geschehend, nicht als diese
einzelne Handlung, sondern als eine solche allgemein charakterisirende, sich oft,
ja vielleicht immer gleichartig wiederholende Handlung vorstellen konnte. Wenig¬
stens mußte sich die Persönlichkeit dauernd in dieser Bewegung, die ja ihr Wesen
erkennen lehren sollte, denken lassen. Die Bewegung konnte also keine solche
sein, in welcher sich der Körper thatsächlich nur einen Augenblick, auf dein
Uebergange von einem Zustande in einen andern, auf dem Wege einer eben


ist, was es nicht wäre, wenn ihm die innere Nothwendigkeit, die Folgerichtigkeit
abginge. Ist aber die melische Statue ein Kunstwerk in diesem Sinne, so ist
der Weg ihrer Entstehung naturgemäß der gewesen, daß der Künstler von dem
Keimpunkte aus geschaffen hat, so daß das Hauptmotiv für die Gestaltung aller
einzelnen Theile des Werkes maßgebend geworden ist und die sich ergebenden
Nebenmotive nur eine Folge dieses Hauptmotivs sind, dieses somit in ihrer
Weise und nach Maßgabe ihrer Eigenthümlichkeit wiederspiegeln. Die Haltung
einer Hand, eines Fußes, des Kopfes, die Fältelung des Gewandes mußte gerade
so werden, weil der Künstler das bestimmte Hauptmotiv gewählt hatte. Springt
dieses, in Folge der Zertrümmerung einzelner Theile der Statue, nicht sogleich
in die Augen, so muß, wegen des vorhandenen nothwendigen Zusammenhanges
aller Theile und der allen gemeinsamen einheitlichen Quelle, ein Rückschluß aus
den Nebenmotiven auf das Hauptmotiv möglich sei«. Je mehr die Nebeu-
motive auf ein und dieselbe Ursache hinweisen, je übereinstimmender sie sich alle
aus Derselben Ursache erklären lassen, um so sicherer ist in dieser bewegenden
Ursache das Hauptmotiv zu erkennen. Da bei der melischer Statue grade die¬
jenigen Theile fehlen, welche das Hauptmotiv unbestreitbar aufklären müßten
— die Arme mit den Händen —, so ist bei der Untersuchung hier der umgekehrte
Weg von dem einzuschlagen, welchen der Künstler gegangen: er ging von dem
Hauptmotiv aus und gestaltete darnach die Nebenmotive; wir gehen von diesen
aus und erkennen aus ihnen jenes.

Das Hauptmotiv konnte von Anfang an der Art nach verschieden sein.
Entweder konnte es in der Absicht des Künstlers liegen, eine Persönlichkeit
ihrem Charakter, ihrem Wesen nach darzustellen. Da mußte es ihm darauf
ankommen, solche Nebenmotive zu wählen, welche zu der Erkenntniß des
Charakters, des Wesens der Persönlichkeit hinführten. Diese Nebenmotive konnten
äußerlicher Natur sein, wie Symbole; sie konnten aber auch mehr innerlicher
Art sein, indem sie eine Bewegung, eine Handlung darstellten, welche der Persön¬
lichkeit so eigenthümlich war, daß sie sicher an ihr erkannt werden konnte. Diese
Bewegung diente jedoch nnr als Mittel, um das Wesen zu charakteristren, war
aber nicht der Gegenstand der Darstellung, das Hauptmotiv. Sie mußte dem¬
gemäß so dargestellt werden, daß man sie leicht als eine nicht in einem bestimmten
Zeitmoment, sondern als gleichsam außer der Zeit geschehend, nicht als diese
einzelne Handlung, sondern als eine solche allgemein charakterisirende, sich oft,
ja vielleicht immer gleichartig wiederholende Handlung vorstellen konnte. Wenig¬
stens mußte sich die Persönlichkeit dauernd in dieser Bewegung, die ja ihr Wesen
erkennen lehren sollte, denken lassen. Die Bewegung konnte also keine solche
sein, in welcher sich der Körper thatsächlich nur einen Augenblick, auf dein
Uebergange von einem Zustande in einen andern, auf dem Wege einer eben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/31>, abgerufen am 23.07.2024.