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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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und Revers derselben Münze. Und diese Erkenntniß ist nicht in trockener Schul¬
sprache, sondern in lebendiger Volkstümlichkeit ausgesprochen in der Lehre Jesu.

Hiermit berühren wir das Thema des folgenden Kapitels: Das Verhältniß
der religiösen Anlage zur Sittlichkeit oder der moralische Werth der religiösen
Anlage.

Happel legt seiner ethnographischen Umschau auf dem Gebiete der Wechsel¬
wirkung von Religion und Sittlichkeit zunächst eine Darstellung der principiellen
Gesichtspunkte Richard Rothes zu Grunde. Dieser findet mit Recht das correcte
Verhältniß vou Religion und Sittlichkeit darin, daß beide sich, wie wir es in
der Anschauung Christi historisch gegeben fanden, gegenseitig decken, daß die
Sittlichkeit sich von der Frömmigkeit durchdringen, die Frömmigkeit sich von
der Sittlichkeit erfüllen läßt, daß gleichsam jene die Seele, diese der Leib ein und
desselben organischen Wesens ist. Da aber beide in Folge der abnormen mensch¬
liche" Entwicklung factisch fast stets relativ auseinander fallen, so kann die Re¬
ligion eine dreifache schiefe Stellung zur Sittlichkeit einnehmen. Entweder sie
leugnet die natürlich sittlichen Aufgaben, die in der Welt zu lösen sind, über¬
haupt und zieht sich auf eine phantastisch ausgemalte jenseitige Welt des
Glaubens zurück; baun entsteht die schwärmerische Frömmigkeit. Oder sie
giebt sich doch etwas auf Erden zu schaffen, aber nicht im Dienste der sittlichen
Gemeinschaft, sondern in einem Kreise willkürlicher, angeblich von der Gottheit
angeordneter Handlungen; dann entsteht die mechanische Frömmigkeit, die
Religion der todten, nicht sittlichen Werke. Oder endlich das sittliche Bewußt¬
sein ist so getrübt, daß die Religion sich mit geradezu unsittlichen, widersittlichen
Gebräuchen und Handlungen umgeben kann: dann entsteht die "viehische"
Religion. Da aber die Religion dem Elemente, mit dem sie sich verbindet,
immer das Gepräge göttlichen Rechts, unverbrüchlicher Geltung aufdrückt, so
kann sie niemals ein gleichgiltiges Anhängsel sein, sondern entweder giebt sie
der Sittlichkeit den rechten Halt und die unerschütterliche Festigkeit, odex sie
hemmt und stört sie oder sie heiligt gar die Bestialität. Wir erkennen darin
ebensowohl eine Warnung vor kühlem Jndifferentismus, als eine Mahnung zu
steter gewissenhafter Controle der religiösen Vorstellungswelt.

Die mechanische Frömmigkeit oder der religiöse "Hof- und Lakaiendienst"
ist natürlich bei Culturvölkern weit umständlicher ausgebildet als bei Natur¬
völkern. So hat ja bei den Römern bekanntlich geradezu das Wort rsli^lo
die Bedeutuug der Aengstlichkeit und der Erfüllung der besonderen enidischen
Pflichten. Solche Religionen erfordern eine große Anzahl von Priestern und
Feiertagen, wie die israelitische und der Katholicismus; oder sie bringen auch
einen ganzen Stand religiöser Müßiggänger hervor, wie abermals der Ka¬
tholicismus und der Buddhismus.


und Revers derselben Münze. Und diese Erkenntniß ist nicht in trockener Schul¬
sprache, sondern in lebendiger Volkstümlichkeit ausgesprochen in der Lehre Jesu.

Hiermit berühren wir das Thema des folgenden Kapitels: Das Verhältniß
der religiösen Anlage zur Sittlichkeit oder der moralische Werth der religiösen
Anlage.

Happel legt seiner ethnographischen Umschau auf dem Gebiete der Wechsel¬
wirkung von Religion und Sittlichkeit zunächst eine Darstellung der principiellen
Gesichtspunkte Richard Rothes zu Grunde. Dieser findet mit Recht das correcte
Verhältniß vou Religion und Sittlichkeit darin, daß beide sich, wie wir es in
der Anschauung Christi historisch gegeben fanden, gegenseitig decken, daß die
Sittlichkeit sich von der Frömmigkeit durchdringen, die Frömmigkeit sich von
der Sittlichkeit erfüllen läßt, daß gleichsam jene die Seele, diese der Leib ein und
desselben organischen Wesens ist. Da aber beide in Folge der abnormen mensch¬
liche« Entwicklung factisch fast stets relativ auseinander fallen, so kann die Re¬
ligion eine dreifache schiefe Stellung zur Sittlichkeit einnehmen. Entweder sie
leugnet die natürlich sittlichen Aufgaben, die in der Welt zu lösen sind, über¬
haupt und zieht sich auf eine phantastisch ausgemalte jenseitige Welt des
Glaubens zurück; baun entsteht die schwärmerische Frömmigkeit. Oder sie
giebt sich doch etwas auf Erden zu schaffen, aber nicht im Dienste der sittlichen
Gemeinschaft, sondern in einem Kreise willkürlicher, angeblich von der Gottheit
angeordneter Handlungen; dann entsteht die mechanische Frömmigkeit, die
Religion der todten, nicht sittlichen Werke. Oder endlich das sittliche Bewußt¬
sein ist so getrübt, daß die Religion sich mit geradezu unsittlichen, widersittlichen
Gebräuchen und Handlungen umgeben kann: dann entsteht die „viehische"
Religion. Da aber die Religion dem Elemente, mit dem sie sich verbindet,
immer das Gepräge göttlichen Rechts, unverbrüchlicher Geltung aufdrückt, so
kann sie niemals ein gleichgiltiges Anhängsel sein, sondern entweder giebt sie
der Sittlichkeit den rechten Halt und die unerschütterliche Festigkeit, odex sie
hemmt und stört sie oder sie heiligt gar die Bestialität. Wir erkennen darin
ebensowohl eine Warnung vor kühlem Jndifferentismus, als eine Mahnung zu
steter gewissenhafter Controle der religiösen Vorstellungswelt.

Die mechanische Frömmigkeit oder der religiöse „Hof- und Lakaiendienst"
ist natürlich bei Culturvölkern weit umständlicher ausgebildet als bei Natur¬
völkern. So hat ja bei den Römern bekanntlich geradezu das Wort rsli^lo
die Bedeutuug der Aengstlichkeit und der Erfüllung der besonderen enidischen
Pflichten. Solche Religionen erfordern eine große Anzahl von Priestern und
Feiertagen, wie die israelitische und der Katholicismus; oder sie bringen auch
einen ganzen Stand religiöser Müßiggänger hervor, wie abermals der Ka¬
tholicismus und der Buddhismus.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/279>, abgerufen am 23.07.2024.