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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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das andre Extrem, die Grausamkeit der Selbstverstümmelungeu und der. Men¬
schenopfer. Wo keine natürlich entwickelte zarte, sittliche Scheu von heimlichen
Ausschweifungen zurückhält, da macht der sittliche Jnstinct in ebenso unnatür¬
licher Gegenwirkung seine Rechte geltend.

Das Volk der Hellenen war durch seine glückliche Organisation, seine weit
maßvollere sinnliche Prädisposition und seiue reiche innere Begabung vor jenen
Gefahren bewahrt geblieben. Es hat sich früh zu geistiger Freiheit und edlen
Cultnrschöpfungen erhoben. Dieser Sieg des Geistes über die niederen Mächte
der Sinnlichkeit wie über die elementaren Naturkräfte spiegelt sich in den Mythen
von der Ueberwindung der Titanen durch höhere Götter ab, und unter den
Schutz der letzteren werden nun die nützlichen Erfindungen, die Einrichtungen
des Hauses, der Gesellschaft, des Staates gestellt, auf sie werden dieselben zurück¬
geführt und damit zugleich geheiligt und befestigt. Ja, in der Erfüllung der
Pflichten, welche diese sittlichen Gemeinschaftskreise an den Menschen stellen, er¬
kennen wenigstens die Fortgeschrittener allmählich eine noch gottwohlgefälligere
Thätigkeit als in den nichtsdestoweniger pietätvoll aufrechterhaltener religiösen
Ceremonien. So ist die Religion auf der Stufe der Versittlichung' angelangt,
wenn auch noch keineswegs auf der reiner, ungetrübter Sittlichkeit.

Aber wie sich in gleichem Schritt mit dem sittlichen Volksgeiste auch die
Religion der Griechen und der unter denselben Gesichtspunkt fallenden Römer
allmählich entwickelt hatte, so wurde sie auch wieder in den sittlichen Verfall
dieser Völker unrettbar mit hineingezogen. Die Gründe, weshalb auch die rei¬
neren Vorstellungen und Gesinnungen eines Sokrates und Platon jenen Nieder¬
gang nicht aufhalten konnten, lassen sich aber unsres Erachtens noch etwas klarer
entwickeln, als es Happel gethan hat. Namentlich erweckt der Satz, daß "die
Vollendung der Religion auf dem Standpunkte einer rein natürlichen Entwick¬
lung der Cultur nicht zu erreichen" sei, den Schein, als wolle Happel die nor-
malisirte Religion schließlich durch einen acus sx man-Kwa. herbeiführen lassen,
was doch gar nicht seinen Anschauungen entspricht. Ein Grund für die Ein-
flußlosigkeit jener Philosophen gegenüber dem religiösen Volksbewußtsein lag
einfach schon darin, daß sie Philosophen, nicht volkstümliche Reformatoren
waren. Sagte doch Platon selbst: "Es ist schwierig, das höchste Wesen zu
finden, unmöglich, es der Menge bekannt zu machen." Dazu kam, daß seine
Volksgenossen so sehr in das vielseitig entwickelte hellenische Weltleben versunken
waren, daß es eines ganz besonderen Reizes bedürfte, um sie zu. gesammelter
Vertiefung in die religiösen Fragen zu bringen. Daß aber die überlieferte
mythische Götterwelt keine Befriedigung mehr gewährte, das war eine einfache
Folge der bei aller gesunkenen Sittlichkeit doch vorwärtsschreitenden Verstandes¬
bildung.


das andre Extrem, die Grausamkeit der Selbstverstümmelungeu und der. Men¬
schenopfer. Wo keine natürlich entwickelte zarte, sittliche Scheu von heimlichen
Ausschweifungen zurückhält, da macht der sittliche Jnstinct in ebenso unnatür¬
licher Gegenwirkung seine Rechte geltend.

Das Volk der Hellenen war durch seine glückliche Organisation, seine weit
maßvollere sinnliche Prädisposition und seiue reiche innere Begabung vor jenen
Gefahren bewahrt geblieben. Es hat sich früh zu geistiger Freiheit und edlen
Cultnrschöpfungen erhoben. Dieser Sieg des Geistes über die niederen Mächte
der Sinnlichkeit wie über die elementaren Naturkräfte spiegelt sich in den Mythen
von der Ueberwindung der Titanen durch höhere Götter ab, und unter den
Schutz der letzteren werden nun die nützlichen Erfindungen, die Einrichtungen
des Hauses, der Gesellschaft, des Staates gestellt, auf sie werden dieselben zurück¬
geführt und damit zugleich geheiligt und befestigt. Ja, in der Erfüllung der
Pflichten, welche diese sittlichen Gemeinschaftskreise an den Menschen stellen, er¬
kennen wenigstens die Fortgeschrittener allmählich eine noch gottwohlgefälligere
Thätigkeit als in den nichtsdestoweniger pietätvoll aufrechterhaltener religiösen
Ceremonien. So ist die Religion auf der Stufe der Versittlichung' angelangt,
wenn auch noch keineswegs auf der reiner, ungetrübter Sittlichkeit.

Aber wie sich in gleichem Schritt mit dem sittlichen Volksgeiste auch die
Religion der Griechen und der unter denselben Gesichtspunkt fallenden Römer
allmählich entwickelt hatte, so wurde sie auch wieder in den sittlichen Verfall
dieser Völker unrettbar mit hineingezogen. Die Gründe, weshalb auch die rei¬
neren Vorstellungen und Gesinnungen eines Sokrates und Platon jenen Nieder¬
gang nicht aufhalten konnten, lassen sich aber unsres Erachtens noch etwas klarer
entwickeln, als es Happel gethan hat. Namentlich erweckt der Satz, daß „die
Vollendung der Religion auf dem Standpunkte einer rein natürlichen Entwick¬
lung der Cultur nicht zu erreichen" sei, den Schein, als wolle Happel die nor-
malisirte Religion schließlich durch einen acus sx man-Kwa. herbeiführen lassen,
was doch gar nicht seinen Anschauungen entspricht. Ein Grund für die Ein-
flußlosigkeit jener Philosophen gegenüber dem religiösen Volksbewußtsein lag
einfach schon darin, daß sie Philosophen, nicht volkstümliche Reformatoren
waren. Sagte doch Platon selbst: „Es ist schwierig, das höchste Wesen zu
finden, unmöglich, es der Menge bekannt zu machen." Dazu kam, daß seine
Volksgenossen so sehr in das vielseitig entwickelte hellenische Weltleben versunken
waren, daß es eines ganz besonderen Reizes bedürfte, um sie zu. gesammelter
Vertiefung in die religiösen Fragen zu bringen. Daß aber die überlieferte
mythische Götterwelt keine Befriedigung mehr gewährte, das war eine einfache
Folge der bei aller gesunkenen Sittlichkeit doch vorwärtsschreitenden Verstandes¬
bildung.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/275>, abgerufen am 23.07.2024.