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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Staatsinteresse zusammen. Ihre Nationalökonomie trägt somit den Charakter
einer Privatökonomie. Nimmt man an, diese Art von Nationalökonomie passe
vollständig für ein industriell hoch entwickeltes Land und Volk, so mußten sich
die Deutschen, welche das System Smiths und Says acceptirten, in erster Linie
fragen, ob diese Voraussetzung bei uns zutreffe, ob unsere Gewerbthätigkeit auf
dem Punkte angelangt sei, wo sie gleich der englischen den Schutz des Staates
entbehren könne. Ferner aber mußten sie untersuchen, ob das Ziel der National¬
ökonomie wirklich allein in der Vermehrung des Reichthums von Individuen
bestehe, ob Privatbesitz mit Nationalvermögen identisch sei, und weder das Eine,
noch das Andere ist geschehen. Unsere Nationalökonomie steht also allerdings
aus einem nationalen, aber nicht auf deutschem, sondern auf englischem Boden.
Smith blieb trotz seines Umgangs mit den weltbürgerlich angehauchten Physiokraten
ein Engländer. Zweifellos hat sein Buch den Engländern Nutzen gebracht. Aber
wenn andere Volker den dabei gepredigten Grundsätzen nachleben sollen, so
müssen sie mit England und andern Hauptindustrieländern concurriren können,
sonst werden sie erdrückt. Die Befreiung der Weltindustrie von allen natio¬
nalen Schranken entspricht dem Interesses der englischen Krämer und Gro߬
fabrikanten und den Wünschen schwärmerischer Kosmopoliten, und unsere Wirth¬
schaftspolitik kann sie nur soweit brauchen, als wir den Engländern in dem oder
jenem Zweige der Gewerbsthätigkeit gewachsen sind. Die Lehre von der absolut
freien Concurrenz im Weltkampfe der Nationen unter den jetzt obwaltenden Um¬
ständen verwirklichen wollen, heißt den Millionär, der fein Etablissement in der
Nähe der zum Betrieb desselben nothwendigen Rohstoffquellen und der zum Vertrieb
feiner Producte dienenden Verkehrswege hat, mit dem mäßig wohlhabenden und
in Betreff des Bezugs seines Materials und der Versendung seiner Erzeugnisse
nicht so günstig gestellten Fabrikanten mit Aussicht auf Erfolg in Wettbewerb
treten lassen. Es heißt, das Recht des Stärkeren zur Verfassung des Wirth¬
schaftslebens erheben und die Grundlagen der Staaten und Nationen zerstören.

Die nationalökonomische Wissenschaft muß andere Wege einschlagen, ihre
Rücksichtnahme auf Schulen und Cliquen abthun, sich den Bedürfnissen des
gemeinen Wesens anpassen, den Lehren des praktischen Lebens mehr Recht ein¬
räumen, beim Volke und dessen Arbeit in die Schule gehen und mehr beobachten
als Definitionen ausdifteln. Die Nationalökonomie ist etwas ganz anderes als
das, was die internationalen Krämer und die denselben in die Hände arbei¬
tenden Kathederbonzen unter dem Worte verstehen. "Um zu begreifen, was sie
ist, bedarf es der Kenntniß der Nation, für die man zunächst zu wirken berufen
ist, und der Liebe zu derselben. Wer keinen Patriotismus besitzt, kann sich un¬
möglich für den Gedanken erwärmen, daß über den Privatinteressen das höhere


Staatsinteresse zusammen. Ihre Nationalökonomie trägt somit den Charakter
einer Privatökonomie. Nimmt man an, diese Art von Nationalökonomie passe
vollständig für ein industriell hoch entwickeltes Land und Volk, so mußten sich
die Deutschen, welche das System Smiths und Says acceptirten, in erster Linie
fragen, ob diese Voraussetzung bei uns zutreffe, ob unsere Gewerbthätigkeit auf
dem Punkte angelangt sei, wo sie gleich der englischen den Schutz des Staates
entbehren könne. Ferner aber mußten sie untersuchen, ob das Ziel der National¬
ökonomie wirklich allein in der Vermehrung des Reichthums von Individuen
bestehe, ob Privatbesitz mit Nationalvermögen identisch sei, und weder das Eine,
noch das Andere ist geschehen. Unsere Nationalökonomie steht also allerdings
aus einem nationalen, aber nicht auf deutschem, sondern auf englischem Boden.
Smith blieb trotz seines Umgangs mit den weltbürgerlich angehauchten Physiokraten
ein Engländer. Zweifellos hat sein Buch den Engländern Nutzen gebracht. Aber
wenn andere Volker den dabei gepredigten Grundsätzen nachleben sollen, so
müssen sie mit England und andern Hauptindustrieländern concurriren können,
sonst werden sie erdrückt. Die Befreiung der Weltindustrie von allen natio¬
nalen Schranken entspricht dem Interesses der englischen Krämer und Gro߬
fabrikanten und den Wünschen schwärmerischer Kosmopoliten, und unsere Wirth¬
schaftspolitik kann sie nur soweit brauchen, als wir den Engländern in dem oder
jenem Zweige der Gewerbsthätigkeit gewachsen sind. Die Lehre von der absolut
freien Concurrenz im Weltkampfe der Nationen unter den jetzt obwaltenden Um¬
ständen verwirklichen wollen, heißt den Millionär, der fein Etablissement in der
Nähe der zum Betrieb desselben nothwendigen Rohstoffquellen und der zum Vertrieb
feiner Producte dienenden Verkehrswege hat, mit dem mäßig wohlhabenden und
in Betreff des Bezugs seines Materials und der Versendung seiner Erzeugnisse
nicht so günstig gestellten Fabrikanten mit Aussicht auf Erfolg in Wettbewerb
treten lassen. Es heißt, das Recht des Stärkeren zur Verfassung des Wirth¬
schaftslebens erheben und die Grundlagen der Staaten und Nationen zerstören.

Die nationalökonomische Wissenschaft muß andere Wege einschlagen, ihre
Rücksichtnahme auf Schulen und Cliquen abthun, sich den Bedürfnissen des
gemeinen Wesens anpassen, den Lehren des praktischen Lebens mehr Recht ein¬
räumen, beim Volke und dessen Arbeit in die Schule gehen und mehr beobachten
als Definitionen ausdifteln. Die Nationalökonomie ist etwas ganz anderes als
das, was die internationalen Krämer und die denselben in die Hände arbei¬
tenden Kathederbonzen unter dem Worte verstehen. „Um zu begreifen, was sie
ist, bedarf es der Kenntniß der Nation, für die man zunächst zu wirken berufen
ist, und der Liebe zu derselben. Wer keinen Patriotismus besitzt, kann sich un¬
möglich für den Gedanken erwärmen, daß über den Privatinteressen das höhere


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[0272] Staatsinteresse zusammen. Ihre Nationalökonomie trägt somit den Charakter einer Privatökonomie. Nimmt man an, diese Art von Nationalökonomie passe vollständig für ein industriell hoch entwickeltes Land und Volk, so mußten sich die Deutschen, welche das System Smiths und Says acceptirten, in erster Linie fragen, ob diese Voraussetzung bei uns zutreffe, ob unsere Gewerbthätigkeit auf dem Punkte angelangt sei, wo sie gleich der englischen den Schutz des Staates entbehren könne. Ferner aber mußten sie untersuchen, ob das Ziel der National¬ ökonomie wirklich allein in der Vermehrung des Reichthums von Individuen bestehe, ob Privatbesitz mit Nationalvermögen identisch sei, und weder das Eine, noch das Andere ist geschehen. Unsere Nationalökonomie steht also allerdings aus einem nationalen, aber nicht auf deutschem, sondern auf englischem Boden. Smith blieb trotz seines Umgangs mit den weltbürgerlich angehauchten Physiokraten ein Engländer. Zweifellos hat sein Buch den Engländern Nutzen gebracht. Aber wenn andere Volker den dabei gepredigten Grundsätzen nachleben sollen, so müssen sie mit England und andern Hauptindustrieländern concurriren können, sonst werden sie erdrückt. Die Befreiung der Weltindustrie von allen natio¬ nalen Schranken entspricht dem Interesses der englischen Krämer und Gro߬ fabrikanten und den Wünschen schwärmerischer Kosmopoliten, und unsere Wirth¬ schaftspolitik kann sie nur soweit brauchen, als wir den Engländern in dem oder jenem Zweige der Gewerbsthätigkeit gewachsen sind. Die Lehre von der absolut freien Concurrenz im Weltkampfe der Nationen unter den jetzt obwaltenden Um¬ ständen verwirklichen wollen, heißt den Millionär, der fein Etablissement in der Nähe der zum Betrieb desselben nothwendigen Rohstoffquellen und der zum Vertrieb feiner Producte dienenden Verkehrswege hat, mit dem mäßig wohlhabenden und in Betreff des Bezugs seines Materials und der Versendung seiner Erzeugnisse nicht so günstig gestellten Fabrikanten mit Aussicht auf Erfolg in Wettbewerb treten lassen. Es heißt, das Recht des Stärkeren zur Verfassung des Wirth¬ schaftslebens erheben und die Grundlagen der Staaten und Nationen zerstören. Die nationalökonomische Wissenschaft muß andere Wege einschlagen, ihre Rücksichtnahme auf Schulen und Cliquen abthun, sich den Bedürfnissen des gemeinen Wesens anpassen, den Lehren des praktischen Lebens mehr Recht ein¬ räumen, beim Volke und dessen Arbeit in die Schule gehen und mehr beobachten als Definitionen ausdifteln. Die Nationalökonomie ist etwas ganz anderes als das, was die internationalen Krämer und die denselben in die Hände arbei¬ tenden Kathederbonzen unter dem Worte verstehen. „Um zu begreifen, was sie ist, bedarf es der Kenntniß der Nation, für die man zunächst zu wirken berufen ist, und der Liebe zu derselben. Wer keinen Patriotismus besitzt, kann sich un¬ möglich für den Gedanken erwärmen, daß über den Privatinteressen das höhere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/272>, abgerufen am 23.07.2024.