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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Vieles, aber leider um Schlimmes angenommen. Während die juristische Praxis
aus den Gesetzbüchern die mittelalterliche Kasuistik ausmerzt, sängt die National¬
ökonomie an, die zahllosen Erscheinungen des täglichen Lebens zu schablonisiren,
also eine neue Casuistik zu schaffen. So verfehlt sie natürlich ihre Bestimmung,
die aus ihrer Verbindung mit der Jurisprudenz für diese erwachsen sollte, und
die darin bestand, die Rechtsbeflisscnen mit den wichtigsten Aufgaben der Gesell¬
schaft und des Staates bekannt zu machen, ihren Gesichtskreis zu erweitern,
ihnen ein großes Gebiet neuer Rechtsbildung auszuschließen, sie mit fruchtbaren
Anregungen zu durchgeistigen und sie vor Verknöcherung und Einseitigkeit zu
bewahren."

Von den wirklich bedeutenden Nationalökonomen sind denn auch nur wenige
Juristen oder überhaupt Fachgelehrte gewesen. Colbert war ursprünglich Kauf¬
mann, Quesnay Mediciner, Adam Smith Philosoph, Ricardo Banquier, Cobden
Fabrikant. Thumm, ein Vorgänger Lifts, war Landwirth, List selbst ein
Autodidakt, der sich vom Schreiber zum Rechnungsbeamten emporarbeitete und
dann auf einen Lehrstuhl gelangte, von dem er von den zünftigen College"
heruntergebissen wurde. Der Amerikaner Henry Carey betrieb den Buchhandel,
und Rodbertus bewirthschaftete seine Güter. Von denen, welche die National¬
ökonomie bei uns in wissenschaftlicher Form Pflegen, verdienen außer Schmoller,
Schönberg, v. Stein und Oncken nur noch einige wenige Beachtung, und es ist
Schade um die Zeit, die man auf die Lectüre der Schriften verwendet, welche
von den übrigen angefertigt worden find. Betrachtet man den gewundenen
Stil und die ungeschickte Ausdrucksweise mancher von diesen gelehrten Herren,
so möchte man fast meinen, sie verstünden nicht deutsch zu denken, weil sie nicht
deutsch zu schreiben wissen. Viele sind entweder zu bequem oder zu ungelenk,
um sich für ihre Vorlesungen und Bücher eine klare und präcise Form anzu¬
eignen. Andere scheinen sich geradezu Mühe zu geben, dunkel und verworren
zu reden und zu schreiben. Sie bekunden eine förmliche Scheu, den Dingen
ihren wahren Namen zu geben. "Ja, man kommt," wie der Verfasser unserer
Schrift sagt, "unwillkürlich zu dem Verdachte, daß der Jargon, in dem sich
einzelne gefallen, hie und da keinen andern Zweck habe, als den Mangel an
Gedanken durch ein Dickicht orakelhafter Worte, Formeln und Satzconstructionen
zu maskiren und so durch die Dunkelheit des Sinnes die Bewunderung der¬
jenigen zu erregen, welche zu den Vertretern der deutschell Wissenschaft wie die
Juden zum Tempelvorhang emporzuschauen pflegen." ... "Auch in der sonstigen
Behandlungsweise des Materials haben unsere ökonomischen Systematiker geringe
Fortschritte gemacht und von der naturwissenschaftlichen Methode nicht viel mehr
als den Namen und die FormNlirung von ,Gesetzen< entlehnt. Dutzende von
Lehrbüchern haben ein ,System< ähnlich den abgestandenen Compendien der


Vieles, aber leider um Schlimmes angenommen. Während die juristische Praxis
aus den Gesetzbüchern die mittelalterliche Kasuistik ausmerzt, sängt die National¬
ökonomie an, die zahllosen Erscheinungen des täglichen Lebens zu schablonisiren,
also eine neue Casuistik zu schaffen. So verfehlt sie natürlich ihre Bestimmung,
die aus ihrer Verbindung mit der Jurisprudenz für diese erwachsen sollte, und
die darin bestand, die Rechtsbeflisscnen mit den wichtigsten Aufgaben der Gesell¬
schaft und des Staates bekannt zu machen, ihren Gesichtskreis zu erweitern,
ihnen ein großes Gebiet neuer Rechtsbildung auszuschließen, sie mit fruchtbaren
Anregungen zu durchgeistigen und sie vor Verknöcherung und Einseitigkeit zu
bewahren."

Von den wirklich bedeutenden Nationalökonomen sind denn auch nur wenige
Juristen oder überhaupt Fachgelehrte gewesen. Colbert war ursprünglich Kauf¬
mann, Quesnay Mediciner, Adam Smith Philosoph, Ricardo Banquier, Cobden
Fabrikant. Thumm, ein Vorgänger Lifts, war Landwirth, List selbst ein
Autodidakt, der sich vom Schreiber zum Rechnungsbeamten emporarbeitete und
dann auf einen Lehrstuhl gelangte, von dem er von den zünftigen College«
heruntergebissen wurde. Der Amerikaner Henry Carey betrieb den Buchhandel,
und Rodbertus bewirthschaftete seine Güter. Von denen, welche die National¬
ökonomie bei uns in wissenschaftlicher Form Pflegen, verdienen außer Schmoller,
Schönberg, v. Stein und Oncken nur noch einige wenige Beachtung, und es ist
Schade um die Zeit, die man auf die Lectüre der Schriften verwendet, welche
von den übrigen angefertigt worden find. Betrachtet man den gewundenen
Stil und die ungeschickte Ausdrucksweise mancher von diesen gelehrten Herren,
so möchte man fast meinen, sie verstünden nicht deutsch zu denken, weil sie nicht
deutsch zu schreiben wissen. Viele sind entweder zu bequem oder zu ungelenk,
um sich für ihre Vorlesungen und Bücher eine klare und präcise Form anzu¬
eignen. Andere scheinen sich geradezu Mühe zu geben, dunkel und verworren
zu reden und zu schreiben. Sie bekunden eine förmliche Scheu, den Dingen
ihren wahren Namen zu geben. „Ja, man kommt," wie der Verfasser unserer
Schrift sagt, „unwillkürlich zu dem Verdachte, daß der Jargon, in dem sich
einzelne gefallen, hie und da keinen andern Zweck habe, als den Mangel an
Gedanken durch ein Dickicht orakelhafter Worte, Formeln und Satzconstructionen
zu maskiren und so durch die Dunkelheit des Sinnes die Bewunderung der¬
jenigen zu erregen, welche zu den Vertretern der deutschell Wissenschaft wie die
Juden zum Tempelvorhang emporzuschauen pflegen." ... „Auch in der sonstigen
Behandlungsweise des Materials haben unsere ökonomischen Systematiker geringe
Fortschritte gemacht und von der naturwissenschaftlichen Methode nicht viel mehr
als den Namen und die FormNlirung von ,Gesetzen< entlehnt. Dutzende von
Lehrbüchern haben ein ,System< ähnlich den abgestandenen Compendien der


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[0270] Vieles, aber leider um Schlimmes angenommen. Während die juristische Praxis aus den Gesetzbüchern die mittelalterliche Kasuistik ausmerzt, sängt die National¬ ökonomie an, die zahllosen Erscheinungen des täglichen Lebens zu schablonisiren, also eine neue Casuistik zu schaffen. So verfehlt sie natürlich ihre Bestimmung, die aus ihrer Verbindung mit der Jurisprudenz für diese erwachsen sollte, und die darin bestand, die Rechtsbeflisscnen mit den wichtigsten Aufgaben der Gesell¬ schaft und des Staates bekannt zu machen, ihren Gesichtskreis zu erweitern, ihnen ein großes Gebiet neuer Rechtsbildung auszuschließen, sie mit fruchtbaren Anregungen zu durchgeistigen und sie vor Verknöcherung und Einseitigkeit zu bewahren." Von den wirklich bedeutenden Nationalökonomen sind denn auch nur wenige Juristen oder überhaupt Fachgelehrte gewesen. Colbert war ursprünglich Kauf¬ mann, Quesnay Mediciner, Adam Smith Philosoph, Ricardo Banquier, Cobden Fabrikant. Thumm, ein Vorgänger Lifts, war Landwirth, List selbst ein Autodidakt, der sich vom Schreiber zum Rechnungsbeamten emporarbeitete und dann auf einen Lehrstuhl gelangte, von dem er von den zünftigen College« heruntergebissen wurde. Der Amerikaner Henry Carey betrieb den Buchhandel, und Rodbertus bewirthschaftete seine Güter. Von denen, welche die National¬ ökonomie bei uns in wissenschaftlicher Form Pflegen, verdienen außer Schmoller, Schönberg, v. Stein und Oncken nur noch einige wenige Beachtung, und es ist Schade um die Zeit, die man auf die Lectüre der Schriften verwendet, welche von den übrigen angefertigt worden find. Betrachtet man den gewundenen Stil und die ungeschickte Ausdrucksweise mancher von diesen gelehrten Herren, so möchte man fast meinen, sie verstünden nicht deutsch zu denken, weil sie nicht deutsch zu schreiben wissen. Viele sind entweder zu bequem oder zu ungelenk, um sich für ihre Vorlesungen und Bücher eine klare und präcise Form anzu¬ eignen. Andere scheinen sich geradezu Mühe zu geben, dunkel und verworren zu reden und zu schreiben. Sie bekunden eine förmliche Scheu, den Dingen ihren wahren Namen zu geben. „Ja, man kommt," wie der Verfasser unserer Schrift sagt, „unwillkürlich zu dem Verdachte, daß der Jargon, in dem sich einzelne gefallen, hie und da keinen andern Zweck habe, als den Mangel an Gedanken durch ein Dickicht orakelhafter Worte, Formeln und Satzconstructionen zu maskiren und so durch die Dunkelheit des Sinnes die Bewunderung der¬ jenigen zu erregen, welche zu den Vertretern der deutschell Wissenschaft wie die Juden zum Tempelvorhang emporzuschauen pflegen." ... „Auch in der sonstigen Behandlungsweise des Materials haben unsere ökonomischen Systematiker geringe Fortschritte gemacht und von der naturwissenschaftlichen Methode nicht viel mehr als den Namen und die FormNlirung von ,Gesetzen< entlehnt. Dutzende von Lehrbüchern haben ein ,System< ähnlich den abgestandenen Compendien der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/270>, abgerufen am 03.07.2024.