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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Dem Thatbestand der Vereinzelung gegenüber erscheint es angezeigt, die
Hilfsmittel zur Lösung des Räthsels zunächst der Statue selbst zu entnehmen;
ist sie doch die einzige authentische Interpretation der Absicht des Künstlers, neben
welcher alle übrigen Hilfsmittel der Erkenntniß nur auf den Werth von Apo¬
kryphen Anspruch machen können. Da erscheint es denn von Wichtigkeit, gleich
die ersten Momente ihrer Wiedergeburt zu verfolgen, zumal da sich mancherlei
Mythen an diese geknüpft haben: die Melierin unterliegt auch hierin dem allge¬
meinen Schicksale der Götter. Wir beschränken uns hierbei auf das, was sich
aus dem Wirrsal widersprechender Berichte als Thatsache herausschälen läßt;
dies ist an sich schon so reich an dramatischer Verwickelung, daß es des künst¬
lichen Aufputzes nicht bedarf, um die theilnehmende Empfindung in Spannung
zu erhalten. Glücklicherweise löst sich diese friedlicher, als es eine Zeit lang
der tragisch geschürzte Knoten erwarten zu lassen schien.

Anfang April 1820 grub der griechische Bauer Aorgos auf seinem Felde,
etwa fünfhundert Schritte von den Ruinen des antiken Theaters von Melos,
welches nach seiner Entdeckung im Jahre 1814 durch Baron Haller, vom Kron¬
prinzen Ludwig von Baiern angekauft worden war. Das Feld lag in der
Nähe der alten Stadtmauer und über den Gräbergrotten, die auf der rechten
Seite des Thales, das zum Meere hinführt, in die Felsen eingehauen find.
Steine jener Mauer, welche der Bauer gesunden, und welche er verwerthen zu
können hoffte, regten ihn an, weiterzugraben. Er fand hierbei eine vier bis fünf
Meter breite Grotte, die er allmählich freilegte. Da stieß er am 8. April auf
ein Marmorfragment: es war die obere Hälfte der melischer Venus. Alsbald
zeigte er sie, sowie einige zugleich aufgefundene Hermen und Marmorfragmente
seinem Nachbar, dem französischen Consular-Agenten Brest. Dieser behielt sich
sogleich das Vorkaufsrecht vor, zumal da die Commandanten einiger im Hafen
befindlichen französischen Schiffe den Fund bei einer Besichtigung sehr rühmten.
Einer denselber, Capitain Dauriac von der Lords, schickte alsbald einen Bericht
an den französischen Generalconsul David in Smyrna. Aus diesen: geht hervor,
daß man am 11. April, dem Datum des Briefes, noch nichts weiter gefunden
hatte, aber die Ausgrabung eifrig fortsetzte: on n's. ains moment pus is
dusts ^usHu'ü, 1a oswturö. Die Erwartung, mehr zu finden, sollte bald in
Erfüllung gehen; am 12. April schickt auch Brest einen Bericht an David nach
Smyrna. Er erzählt, es sei eine Statue gefunden worden, xs.rta.A6ö äoux
xivoos xar la osinturs; der am 11. noch fehlende Unterkörper war also ent¬
weder noch an diesem Tage nach Abfassung des ersten Berichtes oder am 12.,
dem Tage des zweiten Berichtes, gefunden worden. Brest hat mit seiner Nach¬
richt offenbar gewartet, um das Resultat der fortgesetzten Ausgrabung berichten
zu können; mußte doch der Fund als ein viel bedeutenderer erscheinen, wenn


Dem Thatbestand der Vereinzelung gegenüber erscheint es angezeigt, die
Hilfsmittel zur Lösung des Räthsels zunächst der Statue selbst zu entnehmen;
ist sie doch die einzige authentische Interpretation der Absicht des Künstlers, neben
welcher alle übrigen Hilfsmittel der Erkenntniß nur auf den Werth von Apo¬
kryphen Anspruch machen können. Da erscheint es denn von Wichtigkeit, gleich
die ersten Momente ihrer Wiedergeburt zu verfolgen, zumal da sich mancherlei
Mythen an diese geknüpft haben: die Melierin unterliegt auch hierin dem allge¬
meinen Schicksale der Götter. Wir beschränken uns hierbei auf das, was sich
aus dem Wirrsal widersprechender Berichte als Thatsache herausschälen läßt;
dies ist an sich schon so reich an dramatischer Verwickelung, daß es des künst¬
lichen Aufputzes nicht bedarf, um die theilnehmende Empfindung in Spannung
zu erhalten. Glücklicherweise löst sich diese friedlicher, als es eine Zeit lang
der tragisch geschürzte Knoten erwarten zu lassen schien.

Anfang April 1820 grub der griechische Bauer Aorgos auf seinem Felde,
etwa fünfhundert Schritte von den Ruinen des antiken Theaters von Melos,
welches nach seiner Entdeckung im Jahre 1814 durch Baron Haller, vom Kron¬
prinzen Ludwig von Baiern angekauft worden war. Das Feld lag in der
Nähe der alten Stadtmauer und über den Gräbergrotten, die auf der rechten
Seite des Thales, das zum Meere hinführt, in die Felsen eingehauen find.
Steine jener Mauer, welche der Bauer gesunden, und welche er verwerthen zu
können hoffte, regten ihn an, weiterzugraben. Er fand hierbei eine vier bis fünf
Meter breite Grotte, die er allmählich freilegte. Da stieß er am 8. April auf
ein Marmorfragment: es war die obere Hälfte der melischer Venus. Alsbald
zeigte er sie, sowie einige zugleich aufgefundene Hermen und Marmorfragmente
seinem Nachbar, dem französischen Consular-Agenten Brest. Dieser behielt sich
sogleich das Vorkaufsrecht vor, zumal da die Commandanten einiger im Hafen
befindlichen französischen Schiffe den Fund bei einer Besichtigung sehr rühmten.
Einer denselber, Capitain Dauriac von der Lords, schickte alsbald einen Bericht
an den französischen Generalconsul David in Smyrna. Aus diesen: geht hervor,
daß man am 11. April, dem Datum des Briefes, noch nichts weiter gefunden
hatte, aber die Ausgrabung eifrig fortsetzte: on n's. ains moment pus is
dusts ^usHu'ü, 1a oswturö. Die Erwartung, mehr zu finden, sollte bald in
Erfüllung gehen; am 12. April schickt auch Brest einen Bericht an David nach
Smyrna. Er erzählt, es sei eine Statue gefunden worden, xs.rta.A6ö äoux
xivoos xar la osinturs; der am 11. noch fehlende Unterkörper war also ent¬
weder noch an diesem Tage nach Abfassung des ersten Berichtes oder am 12.,
dem Tage des zweiten Berichtes, gefunden worden. Brest hat mit seiner Nach¬
richt offenbar gewartet, um das Resultat der fortgesetzten Ausgrabung berichten
zu können; mußte doch der Fund als ein viel bedeutenderer erscheinen, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/26>, abgerufen am 23.07.2024.