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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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feste Verfassungsnormen eingesetzten Volksvertretung, die noch am ehesten die
entgegengesetzten Intentionen zu vermitteln geeignet wäre, fragt kein Mensch,
nachdem sie kaum ein Jahr nach der Verleihung der Verfassung auseinander¬
gejagt worden ist. Das einzige, was für diesen Ausfall entschädigen könnte,
wäre eine straff, aber wohlwollend gehandhabte Monarchie; aber auch diese ist
wohl zu wünschen, aber nicht zu erreichen. Die Einrichtungen der Verwaltung
selbst haben es bewirkt, daß der eigentliche Schwerpunkt der Regierung und
Administration nicht im Sultan selbst, der viel zu sehr durch die Intriguen des
Harems in Anspruch genommen wird, sondern in dem Großwesir, der neuer¬
dings den modernen Namen Premierminister angenommen hat, dem Mufti,
dem die authentische Interpretation aller Gesetze zusteht, und den Vorstehern
der kleineren Verwaltungsdistriete, den Malis, liegt.

Einzelne wohlwollende türkische Beamte sind wohl im Stande, segensreich
zu wirken, und in Bosnien beruhte die ganze Reform der Verwaltung auf den
Bemühungen des Wesirs. Auch ist namentlich für das Schulwesen in letzter
Zeit manches nicht Unwesentliche geleistet worden. Man unterscheidet drei
Arten von Schulen: 1) die Elementarschulen, welche nach den gesetzlichen Vor¬
schriften jedes Kind osmanischer Herkunft vom sechsten Lebensjahre an besuchen
soll. Es wird hier außer den Elementen des Wissens, Lesen, Schreiben und
Rechnen, auch Religion, Erdbeschreibung und türkische Grammatik gelehrt. Diese
Schulen siud im Großen und Ganzen in keinem schlechten Zustande und in der
That vielleicht geeignet, die sittlichen Schäden, an denen der Mechanismus des
türkischen Staates in seinem Innern krankt, wenn nicht zu heben, so doch zu
mildern. Daneben giebt es noch sogenannte Primärschulen, deren Besuch nicht obli¬
gatorisch ist, die sich jedoch jetzt schon einer regen Betheiligung seitens der os-
manischen Bevölkerung erfreuen. Im Jahre 1874 zählte man ihrer bereits 386
mit 19 356 Schülern. Hier wird außer den Lehrgegenständen der Elementar¬
schulen auch Arabisch, Persisch, Arithmetik, Geometrie, Geschichte und Zeichnen
gelehrt. 2) Die Secundärschalen oder Lyceen, die ungefähr unseren höheren
Bürgerschulen, nach ihrem Lehrplane sogar unsern Realschulen oder Gymnasien
entsprechen sollen. Doch stehen diese bisher in den meisten Städten nur auf
dem Papier, thatsächlich existiren ihrer im ganzen türkischen Reiche nur drei.
3) Die höheren Schulen, auf denen die Ulemas, d. h. alle die, welche an der
regierenden, administrativen oder lehrenden Thätigkeit des Staatslebens activ
theilnehmen, ausgebildet werden. Dahin würde außer den Militär-, Marine-
und sonstigen Fachschulen auch die freilich noch in ihren Rudimenten befindliche
Universität gehören, von der als besonderes Institut die medicinische Anstalt
abgetrennt ist. Unleugbar ist in diesen Schuleinrichtungen der Keim zu besseren
Zuständen enthalten. Denn religiöse Duldung gegen die Christen, sittliche Energie


feste Verfassungsnormen eingesetzten Volksvertretung, die noch am ehesten die
entgegengesetzten Intentionen zu vermitteln geeignet wäre, fragt kein Mensch,
nachdem sie kaum ein Jahr nach der Verleihung der Verfassung auseinander¬
gejagt worden ist. Das einzige, was für diesen Ausfall entschädigen könnte,
wäre eine straff, aber wohlwollend gehandhabte Monarchie; aber auch diese ist
wohl zu wünschen, aber nicht zu erreichen. Die Einrichtungen der Verwaltung
selbst haben es bewirkt, daß der eigentliche Schwerpunkt der Regierung und
Administration nicht im Sultan selbst, der viel zu sehr durch die Intriguen des
Harems in Anspruch genommen wird, sondern in dem Großwesir, der neuer¬
dings den modernen Namen Premierminister angenommen hat, dem Mufti,
dem die authentische Interpretation aller Gesetze zusteht, und den Vorstehern
der kleineren Verwaltungsdistriete, den Malis, liegt.

Einzelne wohlwollende türkische Beamte sind wohl im Stande, segensreich
zu wirken, und in Bosnien beruhte die ganze Reform der Verwaltung auf den
Bemühungen des Wesirs. Auch ist namentlich für das Schulwesen in letzter
Zeit manches nicht Unwesentliche geleistet worden. Man unterscheidet drei
Arten von Schulen: 1) die Elementarschulen, welche nach den gesetzlichen Vor¬
schriften jedes Kind osmanischer Herkunft vom sechsten Lebensjahre an besuchen
soll. Es wird hier außer den Elementen des Wissens, Lesen, Schreiben und
Rechnen, auch Religion, Erdbeschreibung und türkische Grammatik gelehrt. Diese
Schulen siud im Großen und Ganzen in keinem schlechten Zustande und in der
That vielleicht geeignet, die sittlichen Schäden, an denen der Mechanismus des
türkischen Staates in seinem Innern krankt, wenn nicht zu heben, so doch zu
mildern. Daneben giebt es noch sogenannte Primärschulen, deren Besuch nicht obli¬
gatorisch ist, die sich jedoch jetzt schon einer regen Betheiligung seitens der os-
manischen Bevölkerung erfreuen. Im Jahre 1874 zählte man ihrer bereits 386
mit 19 356 Schülern. Hier wird außer den Lehrgegenständen der Elementar¬
schulen auch Arabisch, Persisch, Arithmetik, Geometrie, Geschichte und Zeichnen
gelehrt. 2) Die Secundärschalen oder Lyceen, die ungefähr unseren höheren
Bürgerschulen, nach ihrem Lehrplane sogar unsern Realschulen oder Gymnasien
entsprechen sollen. Doch stehen diese bisher in den meisten Städten nur auf
dem Papier, thatsächlich existiren ihrer im ganzen türkischen Reiche nur drei.
3) Die höheren Schulen, auf denen die Ulemas, d. h. alle die, welche an der
regierenden, administrativen oder lehrenden Thätigkeit des Staatslebens activ
theilnehmen, ausgebildet werden. Dahin würde außer den Militär-, Marine-
und sonstigen Fachschulen auch die freilich noch in ihren Rudimenten befindliche
Universität gehören, von der als besonderes Institut die medicinische Anstalt
abgetrennt ist. Unleugbar ist in diesen Schuleinrichtungen der Keim zu besseren
Zuständen enthalten. Denn religiöse Duldung gegen die Christen, sittliche Energie


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[0202] feste Verfassungsnormen eingesetzten Volksvertretung, die noch am ehesten die entgegengesetzten Intentionen zu vermitteln geeignet wäre, fragt kein Mensch, nachdem sie kaum ein Jahr nach der Verleihung der Verfassung auseinander¬ gejagt worden ist. Das einzige, was für diesen Ausfall entschädigen könnte, wäre eine straff, aber wohlwollend gehandhabte Monarchie; aber auch diese ist wohl zu wünschen, aber nicht zu erreichen. Die Einrichtungen der Verwaltung selbst haben es bewirkt, daß der eigentliche Schwerpunkt der Regierung und Administration nicht im Sultan selbst, der viel zu sehr durch die Intriguen des Harems in Anspruch genommen wird, sondern in dem Großwesir, der neuer¬ dings den modernen Namen Premierminister angenommen hat, dem Mufti, dem die authentische Interpretation aller Gesetze zusteht, und den Vorstehern der kleineren Verwaltungsdistriete, den Malis, liegt. Einzelne wohlwollende türkische Beamte sind wohl im Stande, segensreich zu wirken, und in Bosnien beruhte die ganze Reform der Verwaltung auf den Bemühungen des Wesirs. Auch ist namentlich für das Schulwesen in letzter Zeit manches nicht Unwesentliche geleistet worden. Man unterscheidet drei Arten von Schulen: 1) die Elementarschulen, welche nach den gesetzlichen Vor¬ schriften jedes Kind osmanischer Herkunft vom sechsten Lebensjahre an besuchen soll. Es wird hier außer den Elementen des Wissens, Lesen, Schreiben und Rechnen, auch Religion, Erdbeschreibung und türkische Grammatik gelehrt. Diese Schulen siud im Großen und Ganzen in keinem schlechten Zustande und in der That vielleicht geeignet, die sittlichen Schäden, an denen der Mechanismus des türkischen Staates in seinem Innern krankt, wenn nicht zu heben, so doch zu mildern. Daneben giebt es noch sogenannte Primärschulen, deren Besuch nicht obli¬ gatorisch ist, die sich jedoch jetzt schon einer regen Betheiligung seitens der os- manischen Bevölkerung erfreuen. Im Jahre 1874 zählte man ihrer bereits 386 mit 19 356 Schülern. Hier wird außer den Lehrgegenständen der Elementar¬ schulen auch Arabisch, Persisch, Arithmetik, Geometrie, Geschichte und Zeichnen gelehrt. 2) Die Secundärschalen oder Lyceen, die ungefähr unseren höheren Bürgerschulen, nach ihrem Lehrplane sogar unsern Realschulen oder Gymnasien entsprechen sollen. Doch stehen diese bisher in den meisten Städten nur auf dem Papier, thatsächlich existiren ihrer im ganzen türkischen Reiche nur drei. 3) Die höheren Schulen, auf denen die Ulemas, d. h. alle die, welche an der regierenden, administrativen oder lehrenden Thätigkeit des Staatslebens activ theilnehmen, ausgebildet werden. Dahin würde außer den Militär-, Marine- und sonstigen Fachschulen auch die freilich noch in ihren Rudimenten befindliche Universität gehören, von der als besonderes Institut die medicinische Anstalt abgetrennt ist. Unleugbar ist in diesen Schuleinrichtungen der Keim zu besseren Zuständen enthalten. Denn religiöse Duldung gegen die Christen, sittliche Energie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/202>, abgerufen am 23.07.2024.