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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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einzige Moment, welches den morschen Bau des türkischen Reiches noch zusammen¬
hält. Sollte -- was nicht unwahrscheinlich -- auch dieses einst zu existiren
aufhören, dann wird die türkische Reichsmaschine in sich selbst zusammenstürzen
oder wenigstens den Boden europäischer Civilisation zu verlassen gezwungen
sein. Wir Mitlebenden aber haben nicht die Zukunft serner Jahrhunderte in Betracht
zu ziehen, sondern die Mittel, welche der Gegenwart zu helfen geeignet sind.
Die bisherigen Reformversuche sind an dem Widerstande der türkischen Unter¬
thanen gescheitert, weil jene eine Verschmelzung von Elementen erstrebten, die
einander von Natur entgegengesetzt sind. Wenden wir nun noch einmal unsern
Blick auf die Vorschläge, welche der große deutsche Historiker in jenem Gut¬
achten seinem Monarchen und durch ihn den übrigen europäischen Großmächten
vorgelegt hat.

"Die christlichen Einwohner der Türkei müssen aufhören, Rajah, das ist
Unterworfene der den Staat ausmachenden, allein berechtigten Bekenner des
Islam zu sein, sie müssen Unterthanen der Pforte werden, ebenso wie die
Osmanli selbst." Dies ist das Grundprincip, von welchem auszugehen ist. Als
erstes Erforderniß hierzu stellte Ranke die Möglichkeit für die Christen, Grund¬
besitz zu erwerben, auf. Und in der That sind gerade dadurch, daß sich, oft
im Gegensatz zum Sultan selbst, neben den altberechtigten Spahi noch mannig¬
fache muhamedanische Abenteurer allen Grundbesitz, auch auf dem flachen
Lande, angeeignet haben, die meisten Unzuträglichkeiten entstanden; daher das
fortwährende Drängen der serbischen Bevölkerung nach Entfernung der Moslim
von serbischen Boden, welches in jenem Memorandum vom 7. Mai 1860 seinen
schärfsten Ausdruck gefunden hat. Dieselbe Forderung ist auch in Bosnien
immer und immer wieder erhoben und dort wirklich erfüllt worden, weil die
slawischen Einwohner dort bei den einsichtigen Türken selbst Unterstützung fanden.
Der Wesir von Bosnien bewilligte: 1) daß kein Türke in den Bezirk kommen
dürfe, selbst der Spahi nur einmal im Jahre zur Einziehung seiner Gebühr;
2) daß die Einwohner sich selber richten sollten.

Diese letztere Concession bildet, wie Ranke richtig ausführt, ein weiteres
unentbehrliches Erforderniß für eine gedeihliche Weiterentwicklung; denn ein
Moslim wird nie dahin gebracht werden können, Streitigkeiten zwischen einem
Glaubensgenossen und einem Christen unparteiisch zu entscheiden. Die Ver¬
fassung vom 23. December 1876 hat dann wirklich Gleichheit aller Unterthanen
vor dem Gesetz verfügt; aber wie trotzdem die Sclaverei in der Türkei noch
heute existirt, so ist auch eine Gleichheit der Christen mit den Türken in der
Ausführung keineswegs vorhanden. Für diesen Punkt aber gäbe es doch ein
Muster, nach welchem mau sich in Adrianopel und selbst in Constantinopel sehr
wohl richten könnte. In Belgrad hatte man, lange bevor Serbien seine


einzige Moment, welches den morschen Bau des türkischen Reiches noch zusammen¬
hält. Sollte — was nicht unwahrscheinlich — auch dieses einst zu existiren
aufhören, dann wird die türkische Reichsmaschine in sich selbst zusammenstürzen
oder wenigstens den Boden europäischer Civilisation zu verlassen gezwungen
sein. Wir Mitlebenden aber haben nicht die Zukunft serner Jahrhunderte in Betracht
zu ziehen, sondern die Mittel, welche der Gegenwart zu helfen geeignet sind.
Die bisherigen Reformversuche sind an dem Widerstande der türkischen Unter¬
thanen gescheitert, weil jene eine Verschmelzung von Elementen erstrebten, die
einander von Natur entgegengesetzt sind. Wenden wir nun noch einmal unsern
Blick auf die Vorschläge, welche der große deutsche Historiker in jenem Gut¬
achten seinem Monarchen und durch ihn den übrigen europäischen Großmächten
vorgelegt hat.

„Die christlichen Einwohner der Türkei müssen aufhören, Rajah, das ist
Unterworfene der den Staat ausmachenden, allein berechtigten Bekenner des
Islam zu sein, sie müssen Unterthanen der Pforte werden, ebenso wie die
Osmanli selbst." Dies ist das Grundprincip, von welchem auszugehen ist. Als
erstes Erforderniß hierzu stellte Ranke die Möglichkeit für die Christen, Grund¬
besitz zu erwerben, auf. Und in der That sind gerade dadurch, daß sich, oft
im Gegensatz zum Sultan selbst, neben den altberechtigten Spahi noch mannig¬
fache muhamedanische Abenteurer allen Grundbesitz, auch auf dem flachen
Lande, angeeignet haben, die meisten Unzuträglichkeiten entstanden; daher das
fortwährende Drängen der serbischen Bevölkerung nach Entfernung der Moslim
von serbischen Boden, welches in jenem Memorandum vom 7. Mai 1860 seinen
schärfsten Ausdruck gefunden hat. Dieselbe Forderung ist auch in Bosnien
immer und immer wieder erhoben und dort wirklich erfüllt worden, weil die
slawischen Einwohner dort bei den einsichtigen Türken selbst Unterstützung fanden.
Der Wesir von Bosnien bewilligte: 1) daß kein Türke in den Bezirk kommen
dürfe, selbst der Spahi nur einmal im Jahre zur Einziehung seiner Gebühr;
2) daß die Einwohner sich selber richten sollten.

Diese letztere Concession bildet, wie Ranke richtig ausführt, ein weiteres
unentbehrliches Erforderniß für eine gedeihliche Weiterentwicklung; denn ein
Moslim wird nie dahin gebracht werden können, Streitigkeiten zwischen einem
Glaubensgenossen und einem Christen unparteiisch zu entscheiden. Die Ver¬
fassung vom 23. December 1876 hat dann wirklich Gleichheit aller Unterthanen
vor dem Gesetz verfügt; aber wie trotzdem die Sclaverei in der Türkei noch
heute existirt, so ist auch eine Gleichheit der Christen mit den Türken in der
Ausführung keineswegs vorhanden. Für diesen Punkt aber gäbe es doch ein
Muster, nach welchem mau sich in Adrianopel und selbst in Constantinopel sehr
wohl richten könnte. In Belgrad hatte man, lange bevor Serbien seine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/199>, abgerufen am 23.07.2024.