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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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reicht, daß durch einen Hat vom Jahre 1830 verordnet wurde, daß mit Aus¬
nahme der Festungsgarnisonen keine Moslim in Serbien wohnen sollten: die
ansässigen Grundbesitzer sollten expropriirt werden. Aber diese Bestimmung war
nicht ausgeführt worden, im Gegentheil, im Jahre 1833 erschien ein neuer Hat,
der den Moslim den Aufenthalt in Serbien noch auf weitere fünf Jahre ge¬
stattete. Aus den fünf Jahren waren 27 geworden, und noch immer befanden
sich die türkischen Kadis und Woiwoden auf serbischen Boden. Hiergegen vor
allem remonstriren die Serben in jenem Memorandum, denn der Aufenthalt
türkischer Behörden gebe zu fortwährenden Gewaltsamkeiten Anlaß.*) Das Zu¬
sammenleben der beiden, von Natur und rechtlich getrennten Bevölkerungen
habe fortwährende Unzuträglichkeiten, selbst blutige Zusammenstöße zur Folge.

Die übrigen Forderungen, welche die Serben erhoben, beziehen sich mehr auf
speciell serbische Verhältnisse und vermögen zur Klärung der orientalischen Frage
wenig beizutragen. Wenn Erblichkeit der Dynastie der Obrenowitschen und Un¬
abhängigkeit des Senats wie überhaupt der inneren Verwaltung Serbiens von
der Pforte verlangt wird und später auch von dieser zugestanden worden ist,
so sind das abnorme Verhältnisse, und kein Billigdenkender kann verlangen,
daß die Pforte derartige Concessionen ihren sämmtlichen europäischen Provinzen
mache; sie würde dann eben auf ihr Souveränetätsrecht überhaupt verzichten
und für die Dauer nicht verhindern können, daß ihre Provinzen Serbien auf
dem Wege zu völliger Souveränetät nachfolgen. Vielleicht wäre dies der kür¬
zeste Weg zur Lösung der orientalischen Frage, der gerechteste aber sicher nicht.
Für uns kommt es gerade auf die Frage an, ob eine Besserung der Lage
der christlichen Bevölkerung unter Aufrechterhaltung der türkischen Souveränetät
möglich ist. Daß die sast 10 Millionen christlicher Einwohner der europäischen
Türkei als absolut unterworfene Rajah der IV2 Millionen Osmanen gelten
sollen, ist ein unerträglicher Zustand; eben so unbillig aber wäre es, von der
Pforte zu verlangen, daß sie auf ihre Souveränetätsrechte überhaupt Verzicht
leisten solle. Jeder Staat trägt die Berechtigung zu seiner Existenz in sich; sie
selbst aufzugeben wäre freventlicher Leichtsinn, thörichte Verzweiflung. Sittliche
Kraft und Energie sind die einzigen Bindemittel der Staaten. Daß die Pforte
an diesen unbedingten Erfordernissen aller staatlichen Entwickelung seit dem
Ausgange des 17. Jahrhunderts ein gut Theil verloren hat, wer wollte es
leugnen? Daß sie aber doch noch nicht aller sittlichen Kräfte bar ist, hat am
besten der mannhafte Widerstand gezeigt, den sie in unsern Tagen der russische"
Uebermacht geleistet hat. Diese militärische Sündhaftigkeit ist gegenwärtig das



*) I^Sö (üMs, voivoäss et untres Äktoritss I"u8ulmg,usf, "x"ri,'.",ut Jour ^riäivtwll Jors
as" fortersssss, vlolont vuvsrtvmeut tous les Halts Imxgrikmx.

reicht, daß durch einen Hat vom Jahre 1830 verordnet wurde, daß mit Aus¬
nahme der Festungsgarnisonen keine Moslim in Serbien wohnen sollten: die
ansässigen Grundbesitzer sollten expropriirt werden. Aber diese Bestimmung war
nicht ausgeführt worden, im Gegentheil, im Jahre 1833 erschien ein neuer Hat,
der den Moslim den Aufenthalt in Serbien noch auf weitere fünf Jahre ge¬
stattete. Aus den fünf Jahren waren 27 geworden, und noch immer befanden
sich die türkischen Kadis und Woiwoden auf serbischen Boden. Hiergegen vor
allem remonstriren die Serben in jenem Memorandum, denn der Aufenthalt
türkischer Behörden gebe zu fortwährenden Gewaltsamkeiten Anlaß.*) Das Zu¬
sammenleben der beiden, von Natur und rechtlich getrennten Bevölkerungen
habe fortwährende Unzuträglichkeiten, selbst blutige Zusammenstöße zur Folge.

Die übrigen Forderungen, welche die Serben erhoben, beziehen sich mehr auf
speciell serbische Verhältnisse und vermögen zur Klärung der orientalischen Frage
wenig beizutragen. Wenn Erblichkeit der Dynastie der Obrenowitschen und Un¬
abhängigkeit des Senats wie überhaupt der inneren Verwaltung Serbiens von
der Pforte verlangt wird und später auch von dieser zugestanden worden ist,
so sind das abnorme Verhältnisse, und kein Billigdenkender kann verlangen,
daß die Pforte derartige Concessionen ihren sämmtlichen europäischen Provinzen
mache; sie würde dann eben auf ihr Souveränetätsrecht überhaupt verzichten
und für die Dauer nicht verhindern können, daß ihre Provinzen Serbien auf
dem Wege zu völliger Souveränetät nachfolgen. Vielleicht wäre dies der kür¬
zeste Weg zur Lösung der orientalischen Frage, der gerechteste aber sicher nicht.
Für uns kommt es gerade auf die Frage an, ob eine Besserung der Lage
der christlichen Bevölkerung unter Aufrechterhaltung der türkischen Souveränetät
möglich ist. Daß die sast 10 Millionen christlicher Einwohner der europäischen
Türkei als absolut unterworfene Rajah der IV2 Millionen Osmanen gelten
sollen, ist ein unerträglicher Zustand; eben so unbillig aber wäre es, von der
Pforte zu verlangen, daß sie auf ihre Souveränetätsrechte überhaupt Verzicht
leisten solle. Jeder Staat trägt die Berechtigung zu seiner Existenz in sich; sie
selbst aufzugeben wäre freventlicher Leichtsinn, thörichte Verzweiflung. Sittliche
Kraft und Energie sind die einzigen Bindemittel der Staaten. Daß die Pforte
an diesen unbedingten Erfordernissen aller staatlichen Entwickelung seit dem
Ausgange des 17. Jahrhunderts ein gut Theil verloren hat, wer wollte es
leugnen? Daß sie aber doch noch nicht aller sittlichen Kräfte bar ist, hat am
besten der mannhafte Widerstand gezeigt, den sie in unsern Tagen der russische»
Uebermacht geleistet hat. Diese militärische Sündhaftigkeit ist gegenwärtig das



*) I^Sö (üMs, voivoäss et untres Äktoritss I»u8ulmg,usf, «x«ri,'.»,ut Jour ^riäivtwll Jors
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[0198] reicht, daß durch einen Hat vom Jahre 1830 verordnet wurde, daß mit Aus¬ nahme der Festungsgarnisonen keine Moslim in Serbien wohnen sollten: die ansässigen Grundbesitzer sollten expropriirt werden. Aber diese Bestimmung war nicht ausgeführt worden, im Gegentheil, im Jahre 1833 erschien ein neuer Hat, der den Moslim den Aufenthalt in Serbien noch auf weitere fünf Jahre ge¬ stattete. Aus den fünf Jahren waren 27 geworden, und noch immer befanden sich die türkischen Kadis und Woiwoden auf serbischen Boden. Hiergegen vor allem remonstriren die Serben in jenem Memorandum, denn der Aufenthalt türkischer Behörden gebe zu fortwährenden Gewaltsamkeiten Anlaß.*) Das Zu¬ sammenleben der beiden, von Natur und rechtlich getrennten Bevölkerungen habe fortwährende Unzuträglichkeiten, selbst blutige Zusammenstöße zur Folge. Die übrigen Forderungen, welche die Serben erhoben, beziehen sich mehr auf speciell serbische Verhältnisse und vermögen zur Klärung der orientalischen Frage wenig beizutragen. Wenn Erblichkeit der Dynastie der Obrenowitschen und Un¬ abhängigkeit des Senats wie überhaupt der inneren Verwaltung Serbiens von der Pforte verlangt wird und später auch von dieser zugestanden worden ist, so sind das abnorme Verhältnisse, und kein Billigdenkender kann verlangen, daß die Pforte derartige Concessionen ihren sämmtlichen europäischen Provinzen mache; sie würde dann eben auf ihr Souveränetätsrecht überhaupt verzichten und für die Dauer nicht verhindern können, daß ihre Provinzen Serbien auf dem Wege zu völliger Souveränetät nachfolgen. Vielleicht wäre dies der kür¬ zeste Weg zur Lösung der orientalischen Frage, der gerechteste aber sicher nicht. Für uns kommt es gerade auf die Frage an, ob eine Besserung der Lage der christlichen Bevölkerung unter Aufrechterhaltung der türkischen Souveränetät möglich ist. Daß die sast 10 Millionen christlicher Einwohner der europäischen Türkei als absolut unterworfene Rajah der IV2 Millionen Osmanen gelten sollen, ist ein unerträglicher Zustand; eben so unbillig aber wäre es, von der Pforte zu verlangen, daß sie auf ihre Souveränetätsrechte überhaupt Verzicht leisten solle. Jeder Staat trägt die Berechtigung zu seiner Existenz in sich; sie selbst aufzugeben wäre freventlicher Leichtsinn, thörichte Verzweiflung. Sittliche Kraft und Energie sind die einzigen Bindemittel der Staaten. Daß die Pforte an diesen unbedingten Erfordernissen aller staatlichen Entwickelung seit dem Ausgange des 17. Jahrhunderts ein gut Theil verloren hat, wer wollte es leugnen? Daß sie aber doch noch nicht aller sittlichen Kräfte bar ist, hat am besten der mannhafte Widerstand gezeigt, den sie in unsern Tagen der russische» Uebermacht geleistet hat. Diese militärische Sündhaftigkeit ist gegenwärtig das *) I^Sö (üMs, voivoäss et untres Äktoritss I»u8ulmg,usf, «x«ri,'.»,ut Jour ^riäivtwll Jors as» fortersssss, vlolont vuvsrtvmeut tous les Halts Imxgrikmx.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/198>, abgerufen am 23.07.2024.